Im Frühjahr 1973, nur wenige Wochen nach dem Tod von Alina Szapocznikow, suchte der Regisseur Krzysztof Tchórzewski das Atelier der Künstlerin in Malakoff südlich von Paris auf. Mit der Kamera erfasste er die hinterbliebenen Skulpturen und Plastiken. Wie ein suchendes und zugleich findendes Auge tastet sich das von Tchórzewski geführte Bild durch den Raum. Lebensgroße Figuren aus Zement und Bronze stehen stumm im meterhohen Studio, kleinere Exemplare aus Gips füllen reihenweise die Regalbretter. Die Wände sind mit filigranen Reliefarbeiten und Halbplastiken bedeckt.
Alina Szapocznikows Körperabgüsse von Mündern und Brüsten in Polyurethan, mit denen sie Anerkennung bei den Nouveau Réalistes in Paris oder den Netzwerken rund um Marcel Duchamp und Peter Selz vom Museum of Modern Art in New York erzielte, liegen mal verteilt, mal gesammelt beieinander. Voluminöse Bäuche aus Carrara-Marmor stehen im Garten, neben der Ateliertür hängt eine amorphe Form mit einer Fotografie der Künstlerin, die in Polyesterharz versiegelt wurde. Sie zählt zu Alina Szapocznikows "Tumor-Reihe", in der sie ausgehend von ihrer Brustkrebsdiagnose existenzielle Fragen von Leben und Tod verhandelte. Die 1926 im polnischen Kalisz geborene Künstlerin starb schließlich im Alter von nur 46 Jahren an den Folgen der Krankheit.
Tchórzewskis stummer 16-Millimeter-Film "This is what I leave you after myself" bildet nur eine Fußnote in der umfangreichen Ausstellung "Alina Szapocznikow: Körpersprachen" im Kunstmuseum Ravensburg. Doch es ist eine essenzielle: Denn in den bewegten Bildern zeigen sich die Dichte und Diversität sowie die schöpferische Radikalität, die Alina Szapocznikows Werk auszeichnet.
Ein stummer, doch spürbarer Aufschrei
Mit über 80 Skulpturen und Zeichnungen aus nur knapp zwei Jahrzehnten künstlerischem Schaffen geht die von Ute Stuffer und Ursula Ströbele kuratierte Schau im Kunstmuseum Ravensburg der Entstehung und Entwicklung der Formensprache der polnischen Bildhauerin nach. 2018 legte Luisa Heese in der Kunsthalle Baden-Baden mit "Alina Szapocznikow: Human Landscapes" einen Grundstein für die Rezeption der in Deutschland bis dahin nur vereinzelt beachteten Künstlerin. Auf diesem noch jungen Aufmerksamkeits-Erbe baut die umfangreiche wie konzentrierte Ausstellung im Kunstmuseum Ravensburg auf. Anschließend wird sie ans Musée de Grenoble wandern und Szapocznikows Œuvre posthum erstmals auch in Frankreich intensiv erfahrbar machen.
Ob in Bronze gegossene Körperfragmente, mit Gold patinierte Maschinenteile, samtweich geschliffene Marmoroberflächen, amorph erhärtetes Polyurethan, im Mund zugerichtete Kaugummi-Plastiken oder vibrierende, doch bestimmt geführte Bleistiftlinien: Die Verbindung von Material und Form wirkt in Alina Szapocznikows Arbeiten unmittelbar, ja brutalistisch. Als Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz, Bergen-Belsen und Theresienstadt, aus dem sie 18-jährig befreit worden war, begann sie eine Ausbildung zur Steinmetzin in Prag und schloss 1947 ein Bildhauerei-Studium in Paris an. 1951 kehrte sie nach Polen zurück, um in Warschau zu leben.
Ihre frühen Bronzen wie "Exhuminiert" (1955/57), die aus einem kauernden Torso mit fragmentierten Beinen und ausgehöhltem Mund besteht, lassen das Publikum in der Ravensburger Ausstellung den Beginn ihres bildplastischen Arbeitens nachvollziehen. Die Entwürfe für Holocaust-Denkmäler in Gestalt erhobener, greifender Hände zeigen eine visuelle Sprache, der ein stummer, doch spürbarer Aufschrei innewohnt.
Bereits 1962 war die Künstlerin auf der Venedig-Biennale mit der Skulptur "Gespalten" (1960) vertreten, die einem zersplitterten Brustkorb gleicht und für deren Herausbildung Szapocznikow erstmals Polyesterharz einsetzte. Damit öffnete sie ihre Praxis vom Gebrauch traditioneller bildhauerischer Materialien hin zu industriellem Kunststoff. Die Bedeutung dieses Übergangs wird den Besuchern und Besucherinnen in der Ravensburger Ausstellungsarchitektur durch Paravents vermittelt. Denn durch die mit Gaze bespannten Raumteiler scheint stets das Umliegende hindurch. Szapocznikows vielgestaltige Arbeiten sind so in ihren Verbindungen zueinander erfahrbar.
Die Relevanz des Polyurethans, das Szapocznikow 1963 nach ihrer Rückkehr nach Paris sukzessive in ihr Werk integrierte, rückt auf einer zweiten Etage des Hauses in den Vordergrund. Abformungen von Lippen, Brüsten, Bäuchen oder Beinen, vom eigenen Körper oder von nahestehenden Menschen, bilden fortan in Ergänzung zu gefundenen Materialien die Substanz ihres Vokabulars. Damit stellt sie gleichzeitig den weiblichen Körper als Fetisch- und Konsumobjekt infrage. Etwa in der Reihe "Sculpture-Lampe" (1970), in der phallisch geformte Leuchtenfüße als Basis für illuminierte Lippen und Brüste herhalten.
Ute Stuffer und Ursula Ströbele haben im Kunstmuseum Ravensburg eine außergewöhnlich feinsinnige Atmosphäre geschaffen, in der sich in die Tiefe und Weite der Werke von Alina Szapocznikow eintauchen lässt: in existenzielle wie humorvolle Gebärden, in Gesten der Authentizität und Ehrlichkeit, die allesamt Szapocznikows Leben nachhallen lassen.