Digitale Welten können uns sowohl in ferne und fremde Universen entführen als auch einen Spiegel unserer alltäglichen Realität darstellen. Im Gegensatz zum Film haben wir im Computerspiel die Kontrolle über eine Figur. Doch wie viel Kontrolle haben wir wirklich?
Der in Iran geborene Künstler Ali Eslami gestaltet viele seiner Werke wie Games, so zum Beispiel die Installation "A Stretch of time" im LWL Museum Münster. Zwar nehmen wir die Ego-Perspektive einer Figur ein, dennoch werden wir wie in einem Kino durch die Welt geführt, welche sich vor uns öffnet. Wir können nicht selbst steuern. Die Arbeit zeigt eine Figur, die anscheinend halb Mensch, halb Maschine ist. Diese fährt ganz gewöhnlich mit der U-Bahn zur Arbeit, um am Ziel in dunkle Katakomben hinabzusteigen. Dort, ständig begleitet von einer Stimme, die kryptisch mit uns oder mit sich selbst spricht, muss der Protagonist unter geringem Lichteinfall mysteriöse Kapseln in monotoner Akkordarbeit hin und her bewegen.
Welchen Zweck die Arbeit erfüllen soll, erfahren die Betrachter nicht. Nur der Hinweis, dass es scheinbar wichtig ist, für uns sowie für die ganze Welt über uns. Hinter allem steckt "Suren", was entweder eine kollektive Intelligenz oder ein Konzern zu sein scheint.
Wie frei sind wir in unseren alltäglichen Tätigkeiten wirklich, wenn wir jeden Tag nach festgelegten Schemata arbeiten? Ali Eslamis "A Stretch of time" kritisiert vor allem, dass wir oft nicht hinterfragen, wofür bestimmte Tätigkeiten eigentlich gut sind. Die Arbeitswelt ist heutzutage durch alle möglichen Managementsysteme durchstrukturierter als je zuvor. Hier ein Moodle, dort eine digitale Kalender-Notiz. Konferenzen zwischen verschiedenen Teams und Abteilungen schaffen scheinbar Transparenz und sollen Hierarchien lockern, doch außerhalb dessen arbeitet oft jeder für sich und die vorgegebenen Ziele, die dann zu einem zusammengefügten Endergebnis führen. Ziel ist im schlimmsten Fall ein Produkt oder eine Dienstleistung, an der eine Beratungsgesellschaft oder ein Konzern verdienen.
Zu müde zum Hinterfragen
So sagt zum Ende von "A Stretch of time" eine Schauspielerin: “Because they want you to stay tired”. Eine Anspielung auf ein Symptom, das viele in der Dienstleistungsbranche begleitet. Obwohl arbeitspsychologische Untersuchungen zeigen, dass viele Stunden Arbeit nicht die Effizienz steigern und manche Unternehmen dadurch sogar ihre Profite mindern, herrscht immer noch die Auffassung: Nur wer möglichst lange im Büro sitzt, ist gut in seinem Job. So bewegen immer noch viele Menschen, wie in Ali Elamis Kunstwerk, im metaphorischen Sinne Kapseln hin und her. Und sind zu müde, um zu fragen wieso.
Dabei verwandeln sich Arbeitskräfte in Wesen, die einen Teil ihrer Menschlichkeit zu verlieren scheinen, was die posthuman Komponente bei Ali Eslami betont. Auch lässt sich eine kritische Sichtweise auf eine mögliche transhumanistische Zukunft erkennen: Die Freiheit unserer Körperlichkeit wird gegen vermeintliche technologische Annehmlichkeiten ausgetauscht, die uns dann nur besser arbeiten lassen. Diese etwas düstere Botschaft des Werks wird zum Ende hin mit Humor gelockert – wenn empfohlen wird, dass wir in unserem Google-Kalender die freien Slots sichtbar machen können.
Eslamis Ausstellung im Münsteraner LWL Kunstmuseum – eine Einzelpräsentation anlässlich des Cremer-Preises 2024 - trägt den Namen "Line of Sight" (Sichtlinie). In der Optik bezeichnet dies die Linie zwischen dem Auge und einem Objekt. So betitelt ist aber auch ein Werk der Schau, eine Mischung aus Gedichten in ASCII-Schrift, Computeranimationen und Realfilm-Aufnahmen. ASCII steht für "American Standard Code for Information Interchange" und dient zur Codierung der Zeichen im englischen Alphabet.
Echos der Vergangenheit
Mit der ASCII-Matrix lassen sich mit 7 Bit alle Zeichen einer Computer-Tastatur programmieren. "Line of Sight" hat autobiografische Züge, der Künstler thematisiert dabei die Existenz zwischen zwei Welten. Dabei geht es um den Lebensabschnitt in der Diaspora in den Niederlanden, dazwischen setzt er Töne und Gedichte als Echos für seine Vergangenheit in Iran ein.
Der Einsatz von ASCII-Kunst dient zudem als Mittel, um die Wandlungsfähigkeit der Sprache darzustellen. Eslami integriert dabei die Ästhetik früher Computer, um das Zusammenspiel zwischen Worten und Bildlichkeit zu verdeutlichen. Es ist ein Bekenntnis zur Macht der Sprache und ihrer Repräsentation von Identitäten. Je nach technologischem Paradigmenwechsel ändern sich auch die Zeichen, doch eine Verwurzelung in der Kultur bleibt bestehen. Auch der ASCII-Code wird somit zum historischen Artefakt, zu einer zukünftigen archäologischen Tatsache, die von unserer gemeinsamen menschlichen Reise sowie verschiedenen Wirklichkeiten erzählt.