Wenn die eigene Biografie in die Kunst hineinspielt, dann selten in Form einer Simultanübertragung. Aber ganz erwehren kann sich der Künstler dem auch nicht: "Irgendwie habe ich immer schon versucht, Teile meines Lebens einzubauen", sagt Alfred Ullrich. Das sei manchmal "natürlich lästig, weil ich mich viel lieber mit ästhetischen oder drucktechnischen Fragestellungen auseinandersetzen würde." Wie raffiniert eine Linie verläuft, wie er so etwas wie eine Art Druckkünstler-Witz in die oft komplex gearbeiteten Werke einbringt. Dabei führen die geradlinigen, frei heraus horrorhaften Bilder, die der Sohn einer Porajmos-Überlebenden in seinem Erzählen wachruft, oft zu künstlerisch Mehrfach-um-die-Ecke-Gedachtem.
Im Oktober 2022 ist Ullrich mit zwei weiteren Künstlerinnen nach Heidelberg gezogen. Natali Tomenko, Valérie Leray und Alfred Ullrich sind die ersten Gäste einer Künstler*innenresidenz, die das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma gemeinsam mit dem Goethe-Institut Mannheim initiiert hat. Ergebnisse der zweimonatigen Residenz werden jetzt ausgestellt: Leray präsentiert nüchtern-dokumentarische Fotografien von unscheinbar wirkenden Orten, an denen einst Lager standen. Tomenko, die in der Ukraine geboren wurde und sich dort für die Agency for the Advocacy of Roma Culture engagiert, hat dick geschichtete Malereien angefertigt, die an verbrannte Landschaften erinnern.
Auch bei Ullrich spielt das wörtliche Versengen eine Rolle. In Heidelberg experimentierte er mit der gewohnten Arbeitsweise: Neben Video- und performativen Arbeiten fertigt der Künstler vor allem Drucke an. In seiner neuen Arbeit erweiterte er das Format, tauchte die Radierplatten in Wachs und rußte sie mit terpentingetränkten Fackeln.
"Warum sprechen wir dann nicht darüber?"
Die aktuelle Serie "Flammruss", die jetzt in Heidelberg sowie parallel in einer Gruppenausstellung im European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC) in Berlin präsentiert wird, findet ihren Ausgangspunkt in einer wörtlichen Aneignung der eigenen Familiengeschichte: "Weil ja die meisten meiner Angehörigen in den KZs umgekommen sind. Von vielen weiß ich gar nicht genau, wo, bei einigen habe ich inzwischen eine Vermutung."
Das Trauma, erzählt der Künstler, wirke über Generationen nach. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. "Da stehen ja noch diese Öfen mit diesen Schornsteinen. Man kann bis zum Horizont schauen. Es sind für mich die Öffnungen dieser Schornsteine, durch die die Partikel meiner Vorfahren durchgegangen sind. Meiner Ansicht nach schweben die immer noch in der Atmosphäre." Er ergänzt um eine rhetorische Frage: "Wenn wir dies alle gemeinsam ein- und ausatmen, warum sprechen wir dann nicht darüber?"
Alfred Ullrich wurde 1948 in München geboren, als Sohn einer Wiener Sinteza und eines Deutschen. Er wuchs bei seiner Mutter in Österreich auf, anfangs im Planwagen, woran er sich gerne zurückerinnert. Gleichzeitig empfindet er eine tiefgreifende Erschütterung: "Diese Traumatik, die auch in meinem Familienkreis präsent war – diese familiäre Situation mit den wenigen Überlebenden, die konnte ich als junger Mensch nicht verkraften. Also bin ich von zu Hause davongelaufen, und bin irgendwann ausgerechnet in Dachau gelandet."
Kein Aktivistenkünstler
Um 2000 herum erfuhr der gebürtige Österreicher, dass auch in seiner neuen Wahlheimat mehrere Angehörige umgebracht wurden. "Ich hatte vorher immer schon Momente in meiner Arbeit untergebracht, vermutlich unbewusst, die mit diesen Traumata zu tun haben", sagt Ullrich. Aber ab diesem Moment suchte er die Auseinandersetzung gezielt auf: In performativen Arbeiten wie "Pearls before swine" im tschechischen Lety, für die seine Schwester ihre Echtperlenkette zur Verfügung stellte. Ullrich kippte den kostbaren Schmuck vor die Tore eines Schweinemastbetriebs, der sich bis heute auf dem Gelände eines ehemaligen KZs befindet.
In Video- und Fotoreihen dokumentierte er einen Platz für sogenannte Landfahrer, der Begriff der Nationalsozialisten prangte unverändert auf dem Schild eines verkommenen Rastplatzes in der Nähe von Dachau. Der Oberbürgermeister wollte sich trotz einiger Versprechen dann doch nicht weiter damit auseinandersetzen – Ullrich brachte die Arbeit auf die Biennale von Venedig, schließlich war ein gewisser öffentlicher Druck da, und dann ging alles plötzlich ganz schnell. "Seine Idee ging nach hinten los", kommentiert der Künstler, nur minimal süffisant. "Letztlich hat der Platz viel mehr Aufmerksamkeit erhalten, als wenn er sich gleich damit auseinandergesetzt hätte."
Als Aktivistenkünstler sieht sich Alfred Ullrich aber nicht. Es ist eher eine allgemeine Arbeitssituation, die die Möglichkeit eines jederzeit von außen hereinbrechenden Schreckens reflektiert. Irgendwie befinde er sich immer auf der Flucht. Sich irgendwo hinzusetzen und in Ruhe zu zeichnen, sei nie in Frage gekommen. In München entdeckte er eine Werkstatt für manuelle Druckverfahren, seit 40 Jahren arbeitet er nun mit diesem Medium. Die technische Vorgehensweise trickst die eigene Rastlosigkeit gewissermaßen aus: "Gerade in der Radierung kann man keinen Schritt überspringen. Jede Stufe will beachtet sein, sonst ist die Arbeit aus mehreren Tagen dahin. So kann ich zur Ruhe kommen."
Zuordnungen von außen
Insbesondere farbige, aufwändige Drucke interessierten ihn. "Vielleicht eine Erinnerung an meine Mutter, die sich sehr farbenfroh kleidete." Seine Bilder entstehen aus vielen übereinandergelegten Strukturen, die man im fertigen Druck nicht unbedingt mehr erkennen kann. Ullrich zieht eine Parallele: "So eine Durchdringung verschiedener Gruppierungen, in denen ich mich gesellschaftlich bewege, die dann in den Druckgrafiken gar nicht mehr auseinanderzuhalten sind." In letzter Zeit reduziert er seine Bilder zunehmend, bis hin zur Einfarbigkeit.
Je nachdem, wo sich der Künstler wann befunden hat, kennt er unterschiedliche Zuschreibungen. Um dem österreichischen Wehrdienst zu entgehen, nimmt er die Staatsbürgerschaft seines leiblichen Vaters an. Nun wurde er von einem Außenseiter zum anderen, und musste in regelmäßig zur Fremdenpolizei, um als fortan Deutscher eine Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken.
Heute, in Dachau lebend, klingt Ullrichs Wiener Dialekt noch immer durch – und gleichzeitig wird er regelmäßig als "Sinto-Künstler" angekündigt. Was natürlich nicht falsch ist, aber wieder eine Zuordnung von außen. Ullrichs Cousin wiederum wurde als Sinto in Österreich geboren und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs plötzlich Staatenloser.
Frage nach den Identitäten
Die Frage nach den Identitäten, sagt Alfred Ullrich, sei so eine Sache. Er nutzt den Plural. "Irgendwann sollte es möglich sein, dass man die Künstlerin und den Künstler nennt und nicht unbedingt den Umstand, dass er Sinto oder sie Roma ist. Auch, wenn es jetzt gerade öfter vorkommt und verständlich ist, dass drauf hingewiesen wird, weil Künstlerinnen und Künstler natürlich auch ihr Schicksal thematisieren. Es sollte aber nicht das Prädikat sein, das man allem voranstellt."
Die Kunstresidenz für Sinti und Roma weiß er zu schätzen, nicht zuletzt ob der Möglichkeiten, kunstinteressierte Menschen und Einrichtungen in anderen Regionen kennenzulernen. Vielleicht kann man rare Initiativen wie diese, neben ihrem Zweck der Bewusstwerdung für einen kaum beachteten Völkermord, auch ganz pragmatisch als bescheidenen Ausgleich wirtschaftlicher Benachteiligung beschreiben, denen Betroffene und ihre Nachfahren teils bis heute ausgesetzt sind.
Ullrich hat in Heidelberg ein nächstes Projekt ins Auge gefasst: Zum Weltfrauentag wird er an einer Ausstellung teilnehmen und neue Arbeiten präsentieren, die sich mit seiner widerständigen Mutter auseinandersetzen.