Performance-Künstlerin Pirici im Interview

"Kunst ist niemals autonom"

Alexandra Pirici

Die Rumänin Alexandra Pirici zählt zu den gefragtesten Performancekünstlerinnen unserer Zeit: 2013 ließ sie auf der Venedig-Biennale ikonische Werke vergangener Biennalen nachstellen, zuletzt war sie bei den Skulptur Projekte Münster und im Neuen Berliner Kunstverein vertreten. Mit Monopol sprach die 34-Jährige über ihre künstlerische Praxis und ihre neue Arbeit "Delicate Instruments of Engagement", die ab Mittwoch im HAU Hebbel am Ufer in Berlin zu sehen ist

Frau Pirici, Ihre neue Arbeit ist eine "Ongoing Action" für fünf Performer, die eine subjektive Auswahl an Bildern, Situationen, Internet-Memes oder wichtigen Events aus Politik oder Popkultur nachstellen. Können Sie Beispiele nennen?
Es gibt Referenzen in der Arbeit, die leichter zu erkennen sind als andere. Beispiele aus beiden Kategorien wären Anna Akhmatovas Gedicht "A Land Not Mine", die Verhüllung des "Guernica"-Bilds von Pablo Picasso in der UN-Zentrale in New York während Colin Powells Rede zur Irak-Krise vor den Vereinten Nationen, das "Verwirrter Travolta"-Meme und die Fernsehübertragung von Ceaușescus Hinrichtung.

Wie wichtig ist es, dass das Publikum die Referenzen versteht?
Alle Bezüge sind dem Publikum zugänglich, sowohl als Wandbeschreibung vor Ort als auch auf der Website des HAU. Ich finde aber nicht, dass sie unbedingt notwendig sind für das Erleben der Arbeit. Es geht mir eher darum ein Bild oder eine Situation zu schaffen, die vielleicht eine Erinnerung in unserem Gedächtnis wachruft. Die Erinnerung ist aber gleichzeitig so abstrakt, dass sie als Projektionsfläche für neue Assoziationen dienen kann. Mich interessiert dabei auch, die Theaterbühne von der Bühne aus zu erfahren, als Produktionsort, an dem "Realität" hergestellt wird, die dann in einen weiteren Umlauf gebracht wird.

"Delicate Instruments of Engagement" war ursprünglich vom Impulse Theater Festival in Auftrag gegeben und hatte seine Premiere in der Kunsthalle Düsseldorf, jetzt wird es in einem Theater aufgeführt. Welche Rolle spielen die Orte und deren Geschichte in Ihren Performances?
Im Gegensatz zu den Ansichten mancher Leute glaube ich nicht, dass Kunst jemals autonom sein und ohne ihren Kontext gesehen werden kann. Der White Cube hat versucht, Objekte aus ihren ursprünglichen Umgebungen zu lösen. Dabei hat er einen weiteren Kontext für das Kunstobjekt geschaffen – den historischen Rahmen des modernen, eindeutig kolonialen Versuches, ein sogenanntes einheitliches "Individuum" aus seinen Verstrickungen und dem Netz der Beziehungen herauszuholen, um es "wissenschaftlich" als etwas Autonomes und Einsames zu beobachten. Kurz gesagt: Der Ort, an dem ich meine Arbeiten zeige und dessen Geschichte sind immer wichtig für mich, sei es der Friedenssaal im historischen Rathaus in Münster, eine Bühne, ein White Cube oder ein öffentlicher Platz. Trotzdem heißt das nicht, dass die Arbeit außerhalb ihrer Standortspezifität nicht funktionieren würde.

Was interessiert Sie an der Nachstellung (Reenactment) bereits existierender Bilder, Situationen oder sogar Objekte mittels des menschlichen Körpers?
Ich spreche in meiner künstlerischen Praxis eher von einem Enactment, also dem Erzeugen von Realität durch Handeln, oder der Repräsentation von etwas in einem anderen Format. Einige Objekte, die ich neu interpretiere, wurden im Prinzip noch nie "ausgeführt", deswegen können sie auch nicht nachgestellt werden. Meine ersten Arbeiten, die in diese Richtung gingen, waren Neuinterpretationen von feststehenden materiellen Objekten – öffentlichen Monumenten. Ich wollte zum Beispiel Richard Serras Skulptur "Tilted Arc" mittels des menschlichen Körper neu interpretieren und damit auch das Konzept des öffentlichen Raumes neu durchdenken. Im Gegensatz zu Serras feststehender Skulptur, konnten die in einem Bogen aufgestellten Performer ihre Konstellation aufbrechen, um Passanten durchzulassen. So wird das "Öffentliche" im öffentlichen Raum zu etwas, das permanent neu ausgehandelt werden muss.

Alexandra Pirici "Tilted Arc, time based sculpture - reconstruction of Richard Serra's tilted arc with human material", 2014

 

Die Herangehensweis ist aber auch von Werk zu Werk verschieden. Ich habe 2011 angefangen, öffentliche Denkmäler neu zu interpretieren und ihnen menschliche Körper hinzuzufügen. Die Idee dahinter war, die Denkmäler zu reduzieren, zu ent-monumentalisieren, zu aktualisieren, in ihre Geschichte und ihren Symbolismus einzugreifen oder sie zu entfremden. Dann bin ich ins Museum oder den White Cube gegangen und habe mich auf eine andere Form von Monumentalität und (Kunst-)Geschichte bezogen. Beispiele dafür sind "An Immaterial Retrospective of the Venice Biennale" und "Public Collection", die ich zusammen mit Manuel Pelmus gemacht habe. Es folgten mehr Arbeiten im öffentliche Raum, bei denen feststehende materielle Monumente komplett von Körpern ersetzt wurden ("Monument to Work" und "Tilted Arc"). Dann kam "Delicate Instruments Handled With Care" – eine frühere Version von "Delicate Instruments of Engagement" – bei der das Publikum über den Inhalt der Arbeit und darüber, was dargestellt werden sollte, entscheiden konnte. Bei "Signals" während der 9. Berlin Biennale ermöglichte die Neuinterpretation ein Zusammenspiel des Konkreten (der menschliche Körper im Raum) und Abstrakten (der Effekt der Bewegungserfassungstechnologie und das Kursieren des Internetinhalts). Schließlich ging es bei "Leaking Territories" bei den diesjährigen Skulptur Projekte Münster auch um Denkmäler und um den Prozess der Erinnerung. Die Arbeit nutzte den menschlichen Körper, um verschiedene Ereignisse, Zeiten und Räume mit dem Moment, in dem die Aktion stattfand, zu verbinden, welcher wiederum von dem Publikum erfahren wurde.

Alexandra Pirici "Leaking Territories", 2017, Ausstellungsansicht , Skulptur Projekte Münster

 

Ihre Aktion "Signals" für die 9. Berlin Biennale fragte danach, welche sozialen und elektronischen Mechanismen dafür sorgen, dass ein Foto viral um die Welt geht, auch für die Arbeit "Leaking Territories", bei den Skulptur Projekte Münster spielten Algorithmen und Technologie eine Rolle. Was interessiert Sie an der Verbindung digitaler Technologien und dem menschlichen Körper?
Der Körper ist auch Technologie, also kam diese Verbindung für mich ganz natürlich zustande. Hinzu kommt, dass bestimmte technische Verfahren mehr und mehr Teil unseres Alltags werden. Ich interessiere mich für Ranking-Algorithmen, also was passiert, wenn Maschinen menschliches Verhalten bewerten. Es geht mir darum, menschliche Neigungen und politische Einstellungen sichtbar zu machen, die durch solche Algorithmen protokolliert werden und von denen wir glauben, dass sie zufällige oder "objektive" Ergebnisse sind. Wird man sich darüber klar, dass es immer noch Menschen sind, die selbst die hochentwickelsten neuronalen Netzwerke bauen und steuern, kommt man nicht darum herum, sich auch mit den ethischen und politischen Fragestellungen künstlicher Intelligenz auseinander zu setzen. Diese Einsicht in etwas übersetzen zu können, das "erfahren" und "gefühlt" und nicht nur "gewusst" werden kann, ist etwas, dass ein Kunstwerk vermag, besonders, wenn es menschliche Körper involviert.

Alexandra Pirici "Signals", 2016, Installationsansicht 9. Berlin Biennale

 

Welche Künstler und Choreographen zählen zu Ihren Einflüssen?
Künstler und Choreographen, die mich beeinflusst haben sind beispielsweise La Ribot, Yvonne Rainer, Miriam Raducanu, Jérme Bel, Florin Fieroiu, Eduard Gabia, Maria Baroncea oder Euroartist - eine Künstlergruppe, bestehend aus Teodor Graur und Olimpiu Bandalac, die zwischen 1994 und 1996 in Rumänien aktiv war. Sie haben zum Beispiel Manets "Frühstück im Grünen" in den frühen 90er-Jahren neu interpretiert, niemand kennt das.

Sie sind ausgebildete Tänzerin und Choreografin, heute sind Ihre Werke meist im Kontext bildender Kunst zu sehen. Wie kommt das?
Ich habe die Aufmerksamkeit der Kunstwelt nicht aktiv gesucht. Die Kuratorin und Kunsthistorikerin Raluca Voinea hat 2011 meine erste Arbeit gesehen, die ich für einen öffentlichen Ort konzipiert hatte und die sich mit der Monumentalität und Materialität öffentlicher Denkmäler auseinandersetzte. Sie hat dann 2013 auch die Arbeit für den Rumänischen Pavillon der Venedig-Biennale kuratiert und meine erste Solo-Schau "Aggregate" im Neuen Berliner Kunstverein dieses Jahr. Irgendwie fand mit der Kunstwelt mehr Diskurs über meine Arbeit statt als mit dem Theater und Venedig hat mir noch einmal ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Ich habe auch zuvor schon eher installative und weniger narrative Arbeiten im Theater gemacht: 2010 ließ ich in "A Horse Opera", einer Kollaboration mit Dennis Deter, unterschiedliche Aktionen von drei Performern und einem Pferd auf einer Bühne aufführen. Sie haben beispielsweise in einer aufwendigen Aktion einen Holzstuhl gebaut, nur um diesen dann in einer filmartigen kurzen Kampfszene wieder zu zerstören. Rückblickend würde ich sagen, wäre diese Arbeit viel besser in einem Museum oder in einem Galerieraum aufgehoben gewesen. Im Theater hat es überhaupt nicht funktioniert.

Alexandra Pirici "Aggregate", Neuer Berliner Kunstverein, 2017

 

Wie unterschieden sich die die beiden Bereiche in Bezug auf die Wahrnehmung Ihrer Arbeit?
Zur Zeit bin ich hin- und hergerissen, einerseits ist der Galerieraum viel flexibler, es gibt weniger Einschränkungen und Bürokratie. Der Theaterbetrieb ist manchmal etwas verknöchert. Man kann in einer Galerie Arbeiten machen, die drei Minuten dauern oder einen Monat, es sei denn, diese sind an Raum und Publikum gebunden. Gleichzeitig bedeutet diese "Flexibilität" der Kunstwelt meistens auch, dass nur Künstler und Kurator sich um alles kümmern müssen – Flüge und Unterkunft buchen, die Temperatur im automatisch klimatisierten Museum für die Besucher anpassen, hinter der Buchhaltung herrennen, damit die Bezahlung rechtzeitig da ist. Dann ist es auch eine Frage der Aufmerksamkeit: Ich habe mich immer davor gefürchtet, lange Theater- oder Tanzarbeiten zu machen (vielleicht aber auch nur solche, die schlecht sind), aus denen man als Besucher nicht unbeobachtet herausgehen kann, ohne dass dies gleich als Urteil aufgefasst wird. Das Format der Galerie hingegen verleitet oft zu einer etwas oberflächlichen und schnellen Erfahrung, die sich gut auf Instagram teilen lässt – vielleicht auch nicht immer die beste Lösung, wenn der Mensch seine Aufmerksamkeitspanne auf die eines Goldfisches reduziert. Ich denke, beide Räume haben großes Potential und können vielseitig genutzt werden können. Dieser etwas oberflächliche Antagonismus zwischen Theater und bildender Kunst ist meiner Meinung nach entstanden, um die Karriere bestimmter Performancekünstler auf dem Kunstmarkt voranzubringen, indem man sie als "einzigartig" in dem Bereich darstellt, ihnen so aber gleichzeitig den Zugang zu anderen performativen Praktiken wie dem Theater versperrt.

Wie verkaufen Sie Ihre Arbeiten?
Ich verkaufe immer die performative Arbeit selbst, niemals eine Dokumentation von ihr oder Objekte, die meine Arbeit nur als Dekoration oder Marketingstrategie erscheinen lassen würden. Der Markt für immaterielle Live-Arbeiten ist klein, es gibt wenige private Sammler. Die Kunstwelt ist auch sehr konservativ, wenn es darum geht, neues künstlerisches Terrain zu betreten, auch wenn sie gern das Gegenteil behauptet. Dann geht es natürlich auch darum, wo du herkommst und ob du männlich bist oder nicht. Alt bin ich auch nicht, also kann ich nirgendwo ein Kreuzchen machen. Trotz allem verkaufe ich meine Arbeiten. Sie sind sowohl in öffentlichen als auch in privaten Sammlungen (wobei letztere wiederrum nur an öffentlichen Orten neu installiert werden können).

Was kann die bildende Kunst noch von Tanz und Theater lernen? Wie erklären Sie sich die große Beliebtheit von performativen Arbeiten, die sich in den letzten Jahren in der Kunstwelt beobachten lässt?
Was die letzte Frage angeht: Ich glaube, es kommt darauf an, ob man ein Zyniker oder Idealist ist. Der zynische Blick würde suggerieren, dass die Kunstwelt sich in den letzten Jahren daran gewöhnt hat, dass die Menschen eine immer kleiner werdende Aufmerksamkeitsspanne haben. Alles, was wir online machen, ist darauf abgestimmt, uns in einem kurzen Moment der Aufmerksamkeit zu erwischen. Das hat uns sehr verändert, sowohl als Konsument als auch als handelndes Individuum. Man könnte behaupten, der neue Hype um performative Arbeiten im Kunstkontext verkörpere genau dies: Das analoge Wetteifern um die Aufmerksamkeit eines Publikums, das immer weniger empfänglich ist für längere Formen der Betrachtung und das immer mehr daran gewöhnt ist, sich einzubringen und zu interagieren. Die hoffnungsvollere Sichtweise würde meinen, dass Kuratoren und Institutionen aktiv und aufrichtig versuchen, Änderungen in der institutionellen Praxis zuzulassen, das Museum und das Ausstellungsformat neu zu definieren, Hierarchien und Bewertungssysteme der Kunstwelt zu hinterfragen (Beispielsweise wurde schon immer zwischen "Künstler" und "Choreograph" unterschieden und man erwartete von Tänzern meist nicht, dass sie gut über ihre Arbeit sprechen können), sich neue Begegnungen sowie tiefer gehende und beständige Erfahrungen für das Publikum vorzustellen. Ich denke, man sollte beide Ansichten im Hinterkopf haben, wenn man Arbeiten im Kontext bildender Kunst macht. Eine Praxis oder ein Medium ohne seinen Kontext zu betrachten wäre falsch und zu konservativ. Performative Arbeiten im Kunstkontext haben per se nichts Schlechtes oder Gutes an sich und je mehr sich das Medium aufweitet, desto besser kann man zwischen verschiedenen Praktiken und Vorschlägen unterscheiden. Und ja: Die Kunstwelt kann noch viel von Tanz und Theater lernen, genau wie Tanz und Theater von der Kunst lernen können. Ich hoffe, dass der aktuelle Diskurs dazu beiträgt, dass sich die beiden Bereiche auf produktivere Art austauschen können.