Das wird schon

Aktmodell für Zoë Claire Miller

Foto: Anna Gien
Foto: Anna Gien
Anna Gien (links), der Hund Taxi und Zoë Claire Miller

Ich war noch nie Aktmodell. Nur einmal aus Versehen, und das ist schon ziemlich lange her. Etwas an der Idee erschien mir, zumindest aus verklärt-abstrakter Perspektive, immer schon irgendwie reizvoll. Nachdem ich mich damit abgefunden hatte, dass ich nicht in alle Ewigkeit auf den Brief aus Hogwarts würde warten können, dass das mit der Popstarkarriere nicht wirklich realistisch war und meine Mathelehrerin mir bereits in der fünften Klasse klar machte, dass man ab hier nur noch Schadensbegrenzung betreiben könne, war mein erster ernstgemeinter Berufswunsch Muse. Dafür muss man einfach nur man selbst sein, dachte ich, und imaginierte mir ein Leben in verstaubten Ateliers zwischen leeren Rotweinflaschen und amourös aufgeladenen, hochtrabenden Konversationen. Trotz exzessiven Flanierens in den richtigen Gegenden wurde ich nicht früh genug entdeckt, und weil es keine offiziellen Agenturen für Musenvermittlung gab, und ich mir die Chancen einer Initiativbewerbung mit Lebenslauf und Motivationsschreiben nicht sehr hoch ausmalte, legte ich das Ganze vorübergehend auf Eis. 

Als Zoë mich fragte, ob sie Nacktzeichnungen von mir machen könne, war ich sofort total euphorisiert. Zoë Claire Miller kenne ich schon lange: als Künstlerin, Kuratorin, Mitbegründerin des Berlin Art Prize, ungestüme Feministin und politische Aktivistin, die sich für die Rechte von Künstlerinnen einsetzt. Ich erinnere mich noch daran, dass ich, bevor ich das Glück hatte, ihr zum ersten Mal in Persona zu begegnen, allein vom Klang ihres Namens beeindruckt war, der für mich immer ein bisschen nach einer Mischung aus "Sturmhöhe" und Long Island Promqueen klang. Beste Voraussetzungen also für eine asymmetrische, semi-professionelle Beziehung der Art, wie ich sie mir immer schon heimlich gewünscht hatte. Mit Zoë wäre ich außerdem nicht nur bewegtes Beiwerk der Midlifecrisis eines schluffigen Künstlermachos, der im Schummerlicht meine Nippel für den richtigen Schattenwurf bearbeitet, sondern die Muse einer Koryphäe der Berliner Fem-Avantgarde, die Marianne der professionellen Verschwesterung sozusagen.

Ich bin also ziemlich aufgeregt. Zoë wohnt irgendwo im Niemandsland unter der Warschauer Brücke, wo man nur hinkommt, wenn man wirklich muss. Ihre Wohnung liegt genau zwischen den 365-Tage-im-Jahr-Feiern-Clubs und der sumpfigen Ursuppe zwischen den Gleisen, die das Gesundheitsamt schon vor ein paar Jahren als reale Gefahrenzone für eine Pestepidemie deklariert hatte, zumindest hab ich das mal irgendeinem Schmuddelblatt gelesen. Ich glaube, Zoë geht da nicht feiern.

Im Späti unten kaufe ich noch Zigaretten, in der Hoffnung, dass ich rauchen kann, während ich nackt sein muss, weil sich das nach Bohème anfühlt, und weil ich mir einbilde, dass das gegen die Aufregung hilft. Aus dem Drehständer mit den Zeitungen schlackert die Bildzeitung so heraus, dass ich nur die Schlagzeile sehen kann: "Naddel jetzt bankrott", steht da in riesigen, rot unterstrichenen Buchstaben. Daneben das Foto einer völlig verhutzelten Frau mit Sonnenbrille und Champagnerglas in der Hand. "Naddel", die eigentlich Nadja Abd el Farrag heißt, als älteste Tochter eines sudanesischen Vaters in Hamburg aufwuchs und mit 16 noch eine Apothekerlehre machte, kennt ganz Deutschland vor allem als verwackelte Hintergrundgestalt, die Dieter Bohlen in seinen Interviews mit einem kurzen, schnoddrig-gegröltem "Naddeel" ins Bild ruft, wenn er ein Bier will. Dass Nadja jetzt Hartz IV beantragen muss, finde ich so traurig, dass ich fast zu weinen anfange. Dass man jahrelang seinen Hintern in jede erdenkliche Kamera streckt und von schmierigen PR-Agenturen dazu gezwungen wird, seine Peinlichkeit zur Marke zu machen, um am Ende nichts zu haben, nicht mal ein Krümelchen Würde und ein paar Euro auf dem Konto, finde ich niederschmetternd. Für alle Frauen, nicht nur für Nadja. Aus Mangel an Alternativen war sie dazu gezwungen, selbst aus ihrem ökonomischen Niedergang noch Profit zu schlagen und verarbeitete das ganze Schlamassel in der autobiografischen Single "Knietief im Dispo" (2016).

Kurz überlege ich, ob das mit der Karriere als Aktmodell wirklich so eine gute Idee ist. Weil ich Zoë aber vertraue und hoffe, dass sich die Gefahr, auf die schiefe Bahn zu geraten, mit ihr an meiner Seite in Grenzen hält (sowieso überlege ich, ob Kulturprekariat nicht vielleicht die noch schiefere Bahn sein könnte, und die schlittere ich ja schon seit sieben Jahren rauf und runter, mit Sektglas in der Hand), fasse ich mich innerlich und laufe im Stechschritt die letzten Meter runter bis zu ihrem Haus.

Zum Aufwärmen gibt Zoë mir einen Marderpelz mit Schnauze und Füßchen und einen Schluck Mezcal, den sie aus Mexiko mitgebracht hat. Dank des Arbeitsstipendiums, das sie letztes Jahr vom Berliner Senat bekommen hat, konnte sie den ganzen Winter bei mexikanischen Töpfergurus Keramiken machen. Dass sie es trotz des Überangebots an Cumbiapartys, Micheladas und liebreizenden Hochlandschnurrbärten geschafft hat, zwei große künstlerische Projekte zu realisieren, finde ich ziemlich beeindruckend. Eins davon war die Live-Camshow "Nude with Socks" im Auftrag von Cosmos Carl, einer parasitären Internetplattform, die fast alles hostet, was Künstlerinnen so machen wollen, in diesem Fall eine Kollaboration mit Camilla Rhodes, einem Webcam-Alter-Ego.

Die Zuschauer konnten sich während der achtstündigen Performance live einloggen, gegen Geld Fragen stellen und Socken wünschen, die Camilla sich dann anzog, während Zoë sie zeichnete. Für besonders viel Geld konnte man auch das Duchamp-Glücksrad für sich drehen lassen. Mit dem Gewinn, der dabei rumkam, hat Zoë dann zusammen mit Eva Wilson eine Gruppenausstellung über queere Temporalität in Mexico City kuratiert: "AND WHAT GOOD DOES ALL THE RESEARCH OF THE IMPRESSIONISTS DO THEM WHEN THEY NEVER GOT THE RIGHT PERSON TO STAND BY THE TREE WHEN THE SUN SANK" hieß die nach einem Zitat von Frank O'Hara. Was für ein großartiger Titel.

Jetzt muss ich mich aber ausziehen, sagt Zoë. Während ich versuche mich so zu entblättern, dass mein Bauch keine kleinen Röllchen schlägt, frage ich sie, was sie an Körpern interessiert und daran, sie zu zeichnen. Das hier soll ja ein Interview sein. Sie sagt, es geht vor allem um die Situation selbst, dass da ganz viel passiert, zwischen Zeichnerin und Gezeichneter, währenddessen. Um Ausgeliefertheit, um den Blick des Anderen auf den eigenen Körper und umgekehrt, darum, gesehen zu werden, und um das, was das mit einem tut. Es ist ein Versuch, wieder zum Körper zurückzukehren, raus aus der Einsamkeit zwischen Künstlerin und Material. In erster Linie geht es ihr um die Begegnungen zwischen Menschen, zwischen Freunden, zwischen Fremden, sagt sie. Sie erzählt mir von Palermo, wo sie vor zwei Wochen auf Einladung der Exile Gallery und Maria Inés Plaza Lazo für die Manifesta eine Nacktzeichenbooth auf einem wuseligen Wochenmarkt aufgebaut hat. Jeder, der wollte, durfte nackt, nur mit Obst und Gemüse verziert, posieren. Im Gegenzug für eine Zeichnung musste man etwas geben. Etwas, das ihren Erwartungen entsprach. Zoë hat jetzt ganz viele formlose Verträge bei sich zu Hause. "Einmal Zeug einen ganzen Tag lang für dich herumfahren, wenn du ein Auto brauchst" zum Beispiel.

Zoë Claire Miller bei der Arbeit im Rahmen der Obst- und Gemüseauswahl für das Sequel-Projekt "Nude with Vegetables" bei der Manifesta in Palermo

Ich versuche, mich so auf dem Sofa zu positionieren, dass das Fell meine Brüste verdeckt und meine Beine in einer geschmeidigen Kurve zum Ende hin auslaufen. Dabei stelle ich mich so ungeschickt an, dass mein Arm immer wieder nach hinten über die Lehne wegrutscht, bis ich irgendwo zwischen ungewolltem Side Crunch und spaghettiesker Verrenkung hängen bleibe. Ich frage Zoë nach dem Tauschen und was das für sie bedeutet. Sie sagt, es gehe dabei um Komplizenschaft. Darum, eine Zirkulationssphäre zu schaffen, die nicht an die Effizienzlogiken des Marktes gekoppelt ist. Nicht nur in Bezug auf das Geld, sondern auch in Bezug auf das, um was es geht. Darum, Dinge zu tun, ohne etwas dafür zurückzubekommen. Mit Menschen zu sein, weil man sie mag, nicht weil sie einem etwas bringen. Sie sagt, für sie ist das genauso wichtig, wie sich gegenseitig zu helfen. Nicht weil man sich davon Geld, Anerkennung oder irgendeinen anderen halbseidenen Mehrwert erhofft, sondern weil wir uns helfen wollen.

A: "Aber was unterscheidet das von schnödem Genetzwerke? (Sieht mein Arm fett aus so?)"

Z: "Man kann das umdeuten. Wir helfen uns, weil es Spaß macht, sich gegenseitig zu stärken, und notwendig ist. Gerade wenn sich Frauen in der Kunst untereinander Aufträge zuschachern und Kollaborationen starten, dann tun sie das, weil sie die Arbeit der anderen schätzen und wissen, dass es in dieser männlich dominierten Szene unvermeidbar ist, sich aufeinander verlassen zu können. Das ist nicht Sharing Economy sondern Functional Sisterhood."

Ich glaube, dass sie Recht hat. In der ganzen prekären Schufterei am Teichrand des Kunstmarktes sind Freunde das Wichtigste. Knietief im Dispo, aber wenigstens alle zusammen. Das mit der Functional Sisterhood finde ich toll und frage mich, ob Zoë mich als Muse nicht auch dem Kollektiv zur Verfügung stellen könnte. Dann würden alle von mir profitieren und ich von allen. Weil ich von der Idee so inspiriert bin, mache ich ein Selfie von mir mit dem Marder über der Brust, das könnte mein Profilbild werden, für das Musen-Sharing.

Z: "Bleib so!"

Zoë hat angefangen, mich zu zeichnen, wie ich ein Selfie mache, was mir auf einmal ziemlich peinlich ist. Jetzt muss ich den Arm in dieser dusseligen Position halten, bis er ganz zittrig wird. Sie zeigt mir das Bild. Es ist schön geworden und ich will gleich weiter machen.

 

Zum Glück darf ich rauchen. Für die nächste Pose mache ich ein ganz kleines bisschen Manspreading und weil ich von dem Schluck Schnaps schon ziemlich betrunken bin, traue ich mich, vorzupreschen:

"Wieso machst du das alles eigentlich, den Berlin Art Prize, die Arbeit für den BBK Berlin, den Aktivismus gegen die AfD, anstatt dich auf deine Karriere als Künstlerin zu konzentrieren?"

Zoë lacht. So, dass ich gleich merke, dass die Frage ein bisschen dämlich war.

"Die Kunst habe ich mir deshalb ausgesucht, weil ich einen Beruf wollte, in dem ich für immer unprofessionell sein kann. Der mir den Raum gibt, das alles tun zu können und meinen Hund überall mitzunehmen. Die Arbeit beim berufsverband bildende künstler*innen berlin und die Kampagne für Zeitstipendien davor haben auch damit zu tun. In Mexiko konnte ich nur sein und mich auf meine Arbeit konzentrieren, weil ich ein Stipendium hatte. Es ist so wichtig, dass es diese Stipendien gibt, insbesondere im marktdysfunktionalen Berlin, deshalb setze ich mich dafür ein, dass Künstler*innenförderungen aufgestockt und fairer verteilt werden. Der Berlin Art Prize hat eigentlich eine ähnliche Funktion wie die schwesterliche Komplizenschaft und die Tauschsphäre, von der ich gesprochen habe. Es geht um Solidarität und darum, seine eigenen Referenzsysteme zu schaffen, abseits der vorgegebenen Reglements und Geschmacksverordnungen der institutionalisierten Kunstszene, die immer mit dem Markt verschaltet und außerdem auch irgendwie langweilig ist. Warte!"

Zu der Unprofessionalität gibt es ein tolles Zitat von Clarice Lispector, das Zoë mir auf ihrem Handy vorliest. Dabei leuchtet ihr Gesicht von dem Display, so dass es sich ein bisschen wie in einer Séance anfühlt:

"I only write when I want to. I’m an amateur and insist on staying that way. A professional has a personal commitment to writing. Or a commitment to someone else to write. As for me … I insist on not being a professional. To keep my freedom."

Dann steht sie vom Boden auf und kommt mit der Flasche Mezcal und einem Buch von ihr zurück. Wenn ich es mir ausleihen mag, soll ich mit dem Buch vor meinem Gesicht posieren, damit sie ein Foto machen kann, als Buchleihsignatur. So komme ich mir auf einmal viel nackter vor, als noch gerade, als sie mich gezeichnet hat.

A: "Glaubst du, du als Frau kannst einen Frauenkörper ansehen, ohne ihn irgendwie durch männliche Augen zu sehen? Also weil ja die meisten Bilder von nackten Frauen von Männern für Männer gemacht wurden?"

Z: "Ich glaube, dass sich beide in dieser superintimen Situation der Aktzeichnung dessen bewusst sind, und die Zeichnungen in dem Wissen über die Schwierigkeit der patriarchal geprägten Perspektive entstehen. In jeder Beziehung zweier Körper zueinander kann man eingefahrene Blickachsen durchbrechen und neu denken. Auf dem Markt in Palermo mischten sich die Manifesta-Besucher mit den Einwohnern, die da ihren Einkauf machten, und den Obst- und Gemüseverkäufern. Zuerst hatten uns befreundete Marktleute gewarnt, Nacktheit sei dort absolut tabu, wir würden sicherlich verprügelt werden. Dann war es aber doch unproblematisch, beziehungsweise das Problem waren eher die wie kleine Jungs um den Stand herumschleichenden Typen, die immer wieder Anstalten machten, in das abgehängte Studiolo hineinzulugen, während ich versuchte sie mit 'Le intimità, il riserbo!' halbherzig zu verscheuchen. Anyway, ich glaube mit Humor und Forschheit können wir Asymmetrien durchbrechen und den Körper, den eigenen wie den des anderen, im Betrachten ganz neu schreiben und beschreiben."

 

Zoë erzählt mir von der italienischen Feministin Antonia Nappi und dem, was sie über "existentielle Nacktheit" gesagt hat. Es geht um ein Begehren nach Wahrheit am Rande der Obszönität. In dem Moment, in dem man sich zusammen mit einer anderen Frau auszieht, begreift eine Frau die Ganzheitlichkeit von Körper und Persönlichkeit, begleitet von einer schnellen und unumkehrbaren Reduktion von Stereotypen, sagt sie. Zoë liest mir einen Auszug aus einem Text von 1977 vor:

"To me, being seen and known was a joy, my body was a fact that I couldn’t disguise, I couldn’t hide parts of it, I couldn’t ignore it … I drew a lot of strength from the awareness not only that this body of mine was accepted, but that the process of getting to know me was both physical and intellectual, and that as a whole I was treated with love and sympathy."

Ich finde das, was Nappi schreibt, gut und sage zu Zoë, dass sie sich dann aber auch ausziehen muss, damit das funktioniert. Zwei Minuten später sitzen wir uns nackt gegenüber. Vielleicht liegt es daran, dass der kleine braune Brocken unten in meinem Glas der Wurm war, der den ganzen Alkohol im Mezcal aufgesogen hat, aber ich bin auf einmal richtig beflügelt und schiebe ganz selbstbewusst die Beine auseinander. Während Zoë mich zeichnet, huschen ihre Augen immer wieder über meinen Körper, dann wieder zum Papier. Es sieht schön aus. Vielleicht hat Nappi Recht.

 

Ich erzähle Zoë, dass ich traurig bin wegen Nadja Abd el Farrag und dem, was die mit ihr gemacht haben. Zoë sagt, dass Nadja vielleicht die erste verkappte intersektionale Feministin im deutschen Fernsehen war. Ich finde, das ist eine gute These und überlege, wie wir eine Crowdfunding-Kampagne für sie auf die Beine stellen könnten, weil Sister ist Sister, egal, wie sehr sie vom Patriarchat geschändet wurde.

Mittlerweile liegt der ganze Boden voller Zeichnungen. Ich bin angedüdelt und glücklich. Wenn ich gewusst hätte, dass sich Muse sein so nach Empowerment anfühlen kann, hätte ich mich schon viel früher aktiv um die Umsetzung meines heimlichen Sehnsuchtsjobs gekümmert. Zoë liest mir zum Abschied noch das O'Hara-Gedicht in voller Länge vor. Ich glaube, jetzt hab ich alles verstanden. Auf einmal will ich, dass Zoë neben meinem Baum steht, wenn die Sonne untergeht. Dann denke ich, dass ich zu viel Mezcal getrunken habe und dass diese obsessive Euphorie am Anfang jeder richtigen asymmetrischen Beziehung steht. Aber vielleicht ist das auch egal. Wenn das hier Ausbeutung ist, ist es fabelhafte Ausbeutung, und ich bin, oder war zumindest einen Abend lang, die vielleicht glücklichste Muse auf diesem Planeten.