Künstler Ai Weiwei

"Ich bin nicht wütend auf Deutschland"

Der chinesische Künstler und Dissident Ai Weiwei hat aus seinem Leben eine Graphic Novel gemacht. Hier spricht er über seine Kindheit in der Verbannung, sein Verhältnis zu seiner alten Heimat Berlin und seine Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine

Von sich und seiner Familiengeschichte hat Ai Weiwei bereits in seinen Erinnerungen berichtet, die 2021 unter dem Titel "1000 Jahre Freud und Leid" erschienen sind. Nun bringt der weltberühmte chinesische Dissident und Künstler, der seit 2019 im europäischen Exil lebt, eine Graphic Novel heraus. "Zodiac" erzählt ausgehend von den chinesischen Tierkreiszeichen von seinem Leben, seiner Kunst und seinem Einsatz für die Meinungsfreiheit. Ein Treffen mit Ai Weiwei in Berlin, der seine speziellen Meinung über heikle Themen nicht hinterm Berg hält.

Ai Weiwei, die Graphic Novel "Zodiac" über Ihr Leben beginnt im Jahr 1967 in Xinjiang, wo sie mit Ihrem Vater in der Verbannung lebten. Der kleine Weiwei liest in einem Buch, der Vater sagt: "Leg es beiseite, es ist schlecht für deine Augen". Er, ein berühmter, bei Mao in Ungnade gefallener Dichter, verbietet seinem Sohn das Lesen. Warum fangen Sie mit diesem ja eigentlich widersinnigen Moment an?

Nun, Lesen und das Ansammeln von Wissen können gefährlich sein, vor allem in bestimmten Gesellschaften. In China gab es viele Bücher, die man nicht lesen durfte. Darum steht diese Episode am Anfang. Alle meine Geschichten fangen mit meinem Vater an. Er war ein Pionier, der vor rund 100 Jahren nach Paris ging, der Ausbildung wegen. Und dann ging er wieder zurück nach China, um dem Land zu helfen. Lernen und zurückgehen, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen. In China saß er im Gefängnis und lebte später 20 Jahre lang in der Verbannung. In dieser sehr schwierigen Zeit bin ich aufgewachsen – mit ihm. Sein Leben war mein Leben, deshalb muss ich mit ihm anfangen.

Ein Leben, in dem das Lesen gefährlich war. Ihr Vater hat Sie mit dem Bücherverbot also beschützt?

Ja. Wir haben uns gegenseitig unterstützt. Es ging ums Überleben. Ich habe ihm geholfen alle seine Werke zu verbrennen.

Ihre Familie musste damals in einer Erdhöhle am Rand der Wüste Gobi leben. Eine traurige Zeit?

Ich habe die Zeit nicht unbedingt als traurig empfunden. Wenn du im Regen stehst, wirst du nass. An Dauerregen gewöhnt man sich, solange man niemanden kennt, der im Trockenen ist. Es ist ein totaler Zustand. Ja, manchmal bist du traurig darüber. Aber es stehen ja alle im Regen.

"Zodiac", das ist der chinesische Tierkreis, der die Graphic Novel in zwölf Kapitel gliedert. Jeder Abschnitt verknüpft die Erzählung mit einem Tierkreiszeichen. Im ersten Kapitel ist es die Maus. Sie passe am besten zur Macht, Bücher zu verbieten, heißt es da. Der Mythos besagt, dass der Jadekaiser ein Rennen veranstaltete. Die ersten Zwölf wurden in den Tierkreis aufgenommen. Daneben schildern Sie das Kopf-an-Kopf-Rennen der Katze und der Maus. Die Maus gewinnt mit Tricksereien gegen die Katze, die nicht in den Tierkreis kommt. Da ist wenig Fairness im Spiel – und es sind sehr gemischte Charaktere. Haben Sie die "Zodiac"-Struktur gewählt, weil die Fabel der Menschenwelt sehr nahekommt?

Das spielt eine Rolle. Wissen Sie, die chinesische Gesellschaft ist nicht religiös. Wir wissen, dass man nicht klar zwischen gut und böse trennen kann. In China denkt man auch, dass das Gute manchmal böse sein kann. Darin unterscheiden wir uns von der westlichen Auffassung. Die entspricht einem Schachspiel. Da stehen sich schwarze und weiße Figuren gegenüber. Es gibt eine deutliche Hierarchie von den Bauern bis zum König. Und der König muss gestürzt werden. Das chinesische Strategiespiel Go funktioniert ganz anders. Kein Stein ist wertvoller als der andere. Es geht darum, gegnerische Spielsteine zu kapern, eigene Gebiete zu vergrößern, aber nicht um die Vernichtung des Gegners. Unterschiedliche Spielstärken werden ausgeglichen, sodass auch schwächere Spieler eine Chance haben zu gewinnen. Da steckt also ein ganz anderes Mindset dahinter, eine andere Philosophie.

Noch einmal zurück zum Tierkreis. Es ist nicht das erste Mal, dass Sie mit dem System gearbeitet haben. Seit 2011 ist ein "Zodiac"-Bronzekreis im LACMA in Los Angeles aufgestellt, eine Version der Gruppe ist zurzeit in Ihrer Ausstellung "Transcending Borders" in Bad Ischl zu sehen. Auch in Lego-Mosaiken tauchen die Figuren wieder auf. Warum kehrt das chinesische Horoskop bei Ihnen immer wieder?

Sie wissen vielleicht, dass es im alten Sommerpalast in Peking, der 1860 im Zweiten Opiumkrieg zerstört wurde, einen Brunnen mit den zwölf bronzenen Tierköpfen gab. Die um 1750 gegossenen Originale wurden von anglo-französischen Truppen geplündert. Nach wie vor lösen die Objekte starke nationalistische Gefühle in China aus, sieben Originalköpfe sind ja inzwischen nach China zurückgekehrt. Für mein komplettes Set der Tierköpfe habe ich die fehlenden fünf wiederhergestellt – Drache, Hund, Schlange, Schaf und Hahn sind nie wieder aufgetaucht –, wofür intensive Recherchen über die Stilisierung von Tieren in der Ming- und Qing-Dynastie angestellt werden mussten. Indem die Skulpturengruppe weltweit ausgestellt wird, verliert sie ihre ursprüngliche Ortsgebundenheit und auch ihren imperialen Status. Früher konnte nur ein privilegierter Personenkreis solche Objekte anschauen. Nun wird der Tierkreis universell, demokratisch und inklusiv. Ob wir die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen China und dem Westen und imperialistische Bestrebungen hinter uns lassen können, weiß ich nicht. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Auf dem Cover sind Sie inmitten der Tierkreiszeichen abgebildet. Abgesehen von den Handschellen um den rechten Arm und die in eine Art Heiligenschein integrierten Überwachungskameras sieht die Kostümierung traditionell aus. Treten Sie da als eine Art Krieger auf?

Eher als Wächter, der böse Geister vertreibt. Ich rate Ihnen, das Buch zu Hause herumliegen zu lassen. Das schützt Sie vor unliebsamen Besuchern.

Das Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit.

Ja, Elettra Stamboulis, die an der Story mitgearbeitet hat, der Zeichner Gianluca Costantini und ich wollten schon lange etwas miteinander auf die Beine stellen. Es sollte ein Kinderbuch werden, jedenfalls eins, das auch Kinder lesen können.

Es besteht aus schwarz-weißen Zeichnungen. Warum haben Sie auf Farbe verzichtet?

Ich bin farbenblind. (Ai lacht und zeigt das Handyfoto, das er vor dem Gespräch vom Interviewer gemacht hat) Sehen Sie mal: Ich fotografiere immer nur in Schwarz-Weiß. Was die Leserschaft angeht, wollte ich, dass die Bilder einfach sind, möglichst undramatisch, nicht so knallig wie in japanischen Mangas.

Wir sitzen in ihrem unterirdischen Studio in Berlin-Mitte. Vor fünf Jahren hatten Sie Ihren Rückzug aus Berlin erklärt. Sie beklagten, dass Deutschland keine "offene Gesellschaft" ist und attestierten dem Land ein hohes Maß Alltagsrassismus. Sie leben jetzt vor allem in Cambridge und in Portugal. Aber auch nach Berlin kehren Sie regelmäßig zurück. Hat sich die Wut auf Deutschland inzwischen etwas gelegt?

Ich bin nicht wütend auf Deutschland. Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen immer glauben, glücklich sein zu müssen. Das ist ein deutsches Problem. Es ist nicht mein Problem. Ich war weder in China glücklich noch in den USA, bin es nicht in Portugal oder England. Trotzdem bin ich eine glückliche Person.

Heftige Kritik gab es zuletzt von Ihnen, was die militärische Unterstützung der Ukraine angeht.

Ich verachte den Krieg. Jede Art von Krieg. Menschlichkeit und Frieden müssen verteidigt werden. In jedem Krieg hat jede Seite ein Argument. Ich finde es falsch, nur den Argumenten der einen Seite Beachtung zu schenken. Wenn du das tust, unterstützt du den Krieg. Und ich finde, niemand sollte einer der Kriegsparteien Waffen geben. Sie sollten aufhören und sich zu Verhandlungen zusammensetzen. Also warum schickt ihr nur Waffen und sogar Soldaten? Ihr unterstützt den Krieg. So sehe ich das.

Putin will nicht verhandeln, sondern erobern und zerstören.

Ich glaube nicht, dass Sie da richtig liegen. Ich habe mir auch Putins Argumente angehört. Der Konflikt hat ja auch gar nicht vor zwei Jahren und auch nicht erst 2014 angefangen. Der Westen, die Nato mit ihrem Expansionskurs haben Russland in eine sehr schwierige Lage gebracht. Das ist mein historisches Verständnis der Situation. Was Sie eben gesagt haben, ist bloße Propaganda. Warum sollte Putin die Ukraine einverleiben wollen? Warum? Er hat ja selbst gesagt, dass Russland groß genug ist. Wenn die Ukraine Teil der Nato wird, wird die Lage Russlands noch schwieriger. Also: Lassen Sie die westliche Propaganda aus dem Spiel und benutzen Sie ihr Gehirn.

Okay ...

Es ist nur Propaganda. Sie sagen: Dieser Typ ist böse. Was nicht wahr ist. Auf jeden Fall nicht so simpel.

Das Massaker von Butscha, die Bombardierungen von Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen, das sind doch keine propagandistischen Erfindungen!

Und was ist mit den Bomben auf Gaza?

Reden wir nicht gerade über die Ukraine? (Die Assistentin gibt ein Zeichen, dass die Gesprächszeit ihrem Ende zuneigt) Lassen wir die Politik mal beiseite und reden über Ihre Pläne. An was arbeiten Sie zurzeit?

An allen möglichen Sachen!

Etwas, was Ihnen besonders auf den Nägeln brennt?

Nichts, was meine Arbeit angeht, ist von herausragender Bedeutung. Meine Arbeit besteht darin, meine Existenz zu bezeugen. Doch was ich tue, ist im Weltmaßstab nicht wirklich wichtig. Frieden ist wichtig.