Abdulhamid Kirchers Familienbilder in Berlin

Die Möglichkeit einer Versöhnung

In einer ersten Soloausstellung in seiner Geburtsstadt Berlin beleuchtet Abdulhamid Kircher die komplexe Beziehung zu seinem Vater und die Folgen von patriarchaler Gewalt

Abdulhamid Kircher, als Sohn deutsch-türkischer Eltern in Berlin geboren, wanderte im Alter von acht Jahren mit seiner Mutter in die Vereinigten Staaten aus. Bereits im frühen Teenageralter begann der heutige Künstler, seinen Alltag wie ein visuelles Tagebuch fotografisch festzuhalten, womit er sich später durch die Linse Zugang zu seinem entfremdeten Vater, seiner türkischen Kultur und seinem Erbe verschaffte.

Die Inhaberin der Berliner Galerie Carlier Gebauer, Marie-Blanche Carlier, entdeckte Kirchers Werk in New York und war von seiner unkonventionellen Sichtweise und Nutzung der Fotografie fasziniert. Für Carlier war klar, dass diese Werke insbesondere durch ihren starken Bezug zu den Berliner Bezirken Wedding und Neukölln ausgestellt werden müssen. Mit seiner ersten Soloausstellung "Rotting from Within" in Berlin thematisiert der heute 28-jährige Fotograf nun die emotional distanzierte Beziehung zu seinem Vater, der zuvor wegen Drogenhandel und versuchten Mordes im Gefängnis saß, sowie das generationsübergreifende Trauma innerhalb seiner Familie.

In Kontrast zu den sonst schlicht präsentierten Einzelwerken steht eine ortsspezifische Installation. Eine Wand, geflutet mit Archivbildern, biografischen Artefakten, Fragmenten aus der Kindheit, Tagebucheinträgen sowie Kirchers eigenen ausschließlich analogen Fotografien der letzten zehn Jahre, die auf dem ersten Blick an ein wild ausgelegtes Familienalbum erinnert. Mittig hängt ein Bild des neugeborenen Abdulhamid Kircher mit seinem Vater. Der Fotograf erklärt, dass er dieses Bild bei seiner Thesis-Ausstellung an der University of California in San Diego als zentrales und größeres Werk präsentiert hatte. Für die Berliner Schau hat er es angepasst, kleiner und durch ein Foto seiner Mutter ergänzt. Beide Fotografien hängen nun mit einem Abstand, fast schon abgegrenzt von den anderen Abbildungen, und kennzeichnen den Ursprung, auf den alle weiteren Arbeiten zurückzuführen sind. 

Lebendiges Archiv

Welche Arbeiten in welcher Größe und Konstellation hängen, hat Abdulhamid Kirchers gemeinsam mit seiner Partnerin Zoe Bullock entschieden. Die Einzelteile sind nicht nach Zeit, sondern viel mehr nach Themen oder formalen Ähnlichkeiten sortiert, wie beispielsweise kleine Jungen oder Männer mittleren Alters, die ähnliche machistische Posen einnehmen. Die sonst weiße Mauer präsentiert so ein lebendiges, nicht abgeschlossenes Archiv aus Erinnerungen, experimentellen sowie intimen Fotografien.

Etwas in den Hintergrund geraten Kirchers Einzelwerke, die nach künstlerischen Schwarzweiß-Fotografien und dokumentarischen Farbfotografien räumlich unterteilt sind. In einem zusätzlich als Wohnzimmer mit Teppich und Sofa inszenierten Raum ist das emotional ergreifende 53-minütige Video "Noch ein Kind" von Maxi Hachem zu sehen. "Ich bin die einzige Person, die Abdul so hätte begleiten können, da ich selbst eine ähnlich schwere Beziehung zu meinem Vater habe", sagt Hachem, junger Filmemacher und Kirchers bester Freund aus Kindheitstagen. Das Material der letzten drei Jahre wirft Fragen zu Gewalt und Zugehörigkeit, Familie und Fremdsein auf und erzählt die Geschichten hinter einigen ausgestellten Fotografien. Nach einer längeren Streitsequenz zwischen dem Künstler und seinem Vater sitzt Kircher mit seiner Partnerin auf einer Mauer und spricht darüber, dass man bei einem schwierigen Elternteil die Wahl hat: Entweder akzeptiert man ihn so, wie er ist, oder man muss ihn aus seinem Leben ausschließen.

Beim Betrachten von Abdulhamid Kirchers fotografischer Dokumentation scheint die Möglichkeit einer Versöhnung oder zumindest Akzeptanz auf. Im gleichnamigen Buch zur Ausstellung, herausgegeben durch Loose Joints, fällt auf, dass Kircher zu Beginn viel mit Farbe gearbeitet hat. Mittlerweile dominieren Schwarzweiß-Fotografien, die eine gewisse abgeklärte Distanz zum Ausdruck bringen, die vielleicht in Realität in der ambivalenten Vater-Sohn-Beziehung schon immer vorhanden war.