Auch nach 43 Jahren wird die Geschichte nicht alt: Ulay, eigentlich Frank Uwe Laysiepen, spaziert am 12. Dezember 1976 in die Neue Nationalgalerie, reißt Carl Spitzwegs Gemälde "Der arme Poet" (1839) von der Wand und rennt los. Durch die Feuertür entkommt er, rutscht aber vor dem Museum aus. Einer der Wachmänner hält ihn an der Jacke fest: “Jetzt haben wir ihn!“ Doch Ulay kann sich losreißen und springt in seinen schwarzen Citroën. Mit höchster Vorsicht vor Taxifahrern, die nicht selten die Polizei informieren, fährt der Wahl-Amsterdamer nach Kreuzberg. Dort parkt er den auffälligen Fluchtwagen und stapft durch den Schnee – das Biedermeier-Original unter den Arm geklemmt. Ulays Ziel: die Wohnung einer türkischen Gastarbeiterfamilie. Dort platziert er den armen Poeten einfach über dem Sofa im Wohnzimmer.
Für die Medien der 70er-Jahre war der Kunstraub ein gefundenes Fressen. Die Bild schrieb "Linksradikaler raubt unser schönstes Bild", die Berliner Zeitung "Irrer raubte in Berlin das weltberühmte Spitzweg-Gemälde". Dass das Kunst war, verstand offensichtlich keiner. Und das, obwohl der Aktionskünstler zuvor europaweit sowohl Presse als auch Kunstinstitutionen mit einem Brief informiert hatte. Auch der sofortige Anruf bei Dieter Honisch, damaliger Direktor der Neuen Nationalgalerie, schützte Ulay nicht vor der U-Haft und einer Geldstrafe.
Was genau ist hier das Kunstwerk?
Dokumentiert wurde die gesamte Aktion vom Kameramann Jörg Schmidt-Reitwein, der Ulay mit einem Van folgte. Im Museum machte die Künstlerin und damalige Lebenspartnerin Ulays, Marina Abramović, heimlich Aufnahmen. Der Berliner Galerist Mike Steiner übernahm die Finanzierung des Videos "Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst" sowie den Schnitt – zusammen mit der Fernsehregisseurin Wilma Kottusch. Die Frage, was hier eigentlich genau das Kunstwerk ist, beschäftigt sogar die Beteiligten. Bis heute sind die Eigentumsverhältnisse des Films nicht geklärt. Der Rechtsstreit dauert an.
Unstrittig sind dagegen Ulays Motive: Der Künstler war schockiert darüber, dass eines von Hitlers Lieblingsbildern in einem zukunftsorientierten Museum Westberlins hing. Tatsächlich war der Kunstraub aber nur ein Teil der Aktion "Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst". Zusätzlich hängte der deutsche Künstler Reproduktionen des Bildes von Carl Spitzweg an der Hochschule der Künste und dem Kunstquartier Bethanien auf. Er markierte mittels des als typisch deutsch erachteten Gemäldes ein Dreieck durch die Berliner Kulturlandschaft. Diese verstand sich nach dem zweiten Weltkrieg als modern. Tatsächlich aber wurde an der Akademie zum Beispiel noch klassisch nach Gattungen unterrichtet, was dem experimentierfreudigen und aufgeschlossenen Ulay sehr missfiel.
Letztlich sollte die Aktion die Kunstwelt und Gesellschaft aufrütteln, zu neuen Diskussionen um die Definition von Kunst anregen. Der Performancekünstler wollte zudem auf die fehlende Integration der türkischen Gastarbeiter aufmerksam machen. In der Retrospektive ließ die Aktion aber vor allem die Medien auflaufen.
Das Werk begeistert das Publikum auch heute noch. Teilweise liegt das sicher am Witz des stümperhaft wirkenden, aber gelungenen Diebstahls. Die Aktion berührt aber auch Themen, die angesichts der erhitzten Integrations-Debatte und der fiebrigen Presse-Landschaft im digitalen Zeitalter wieder hochaktuell sind: Kann man das System ändern, wenn man die Regeln bricht?