"Schätzchen, Hanne hat das Brot vergessen, bringt es aber heute Abend, Schätzchen", lamentiert die Grande Dame der Konzeptkunst vor ihrer gehörnten Kinderschar. Die enttäuschten Ziegen danken es ihr mit einem schnellen Abzug, so viel Emotionalität ausgerechnet von der Queen der kühlen Konstruktion, ist ihnen sichtbar zu viel. Einen Schnitt weiter beschwert sich Darbovens Tierarzt über ihren Drang, die Pflanzenfresser zu überfüttern. "Wenn ich kam, lagen sie meistens schon auf dem Rücken", erzählt der gänzlich kunstferne ältere Herr amüsiert. Zur Behandlung chauffiert wurden die aufgeblähten Viecher im VW Cabrio, stehend auf dem Rücksitz.
Nun ja, diese verrückten Künstler! Dass die gemeinsam mit ihrer Mutter auf einem riesigen Bauernhof lebende Darboven ein Unikat war, darin sind sich alle Befragten einig, ob Tischler, Assistenten oder Hausfotografen. Und je länger man das Porträt von Rasmus Gerlach anschaut, der all die von Darboven ausgestreuten Interpretationsfährten ihrer Person dankbar aufgreift, wähnt man sich in einem Fan-Panoptikum, das keinerlei Seitenblicke jenseits der Legende kennt. Schroff, arrogant, abweisend sei sie gewesen. Aber warum und wie sie so geworden war, warum sie sich von der jungen Kurzhaarschnittschönheit in eine geschlechtslose Kunst-Nonne verwandelt hat, scheint niemand zu interessieren. Ihre Schrulligkeiten und Anekdötchen sind dann doch zu schön.
Da muss schon ein Kasper König kommen, um zwischen Tür und Angel zu erwähnen, dass Hannes Eltern Nazis waren. Darüber hätte man gerne mehr erfahren. Auch warum sie sich von deren Einfluss nicht lösen konnte. Der Regisseur aber offenbar nicht. Da bleibt nur, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Also daher die penible Erbsenzählerei? Die Gnadenlosigkeit gegenüber allem Privaten, das nicht ins Zahlenraster einer überdurchschnittlichen Existenz passte?
Zu viele Fragen bleiben offen
Darboven gilt ja als so etwas wie eine Buchhalterin der Zeit. Ihr Vergehen nutzte sie, um Räume vollzuschreiben, wie sie es selbst sagte. Dann setzte sie sich mitten in der Nacht an den Schreibtisch und kritzelte sieben Stunden lang Kalender und andere Notizbücher mit Noten, Texten und Zahlenreihen voll. So glaubte sie, einen Hauch von Kontrolle auszuüben über ein Phänomen, mit dem sich zeitgleich auch andere Konzeptkünstler auf ähnlich manisch disziplinierte Weise auseinandersetzten, wie etwa der Japaner On Kawara, der täglich das jeweilige Datum in seine berühmten Date Paintings bannte oder der Pole Roman Opalka. Auch ihn beschäftigte die Frage der Zeitlichkeit auf Leinwänden, die er von links nach rechts mit aufeinander folgenden Zahlen Richtung Unendlichkeit mit einem Pinsel beschrieb.
Seltsamerweise greift Rasmus Gerlach diesen Kontext einer spezifischen Kunstbewegung gar nicht auf, denn in die Tiefe gehende Didaktik scheut er wie Darboven ein aus dem Ruder laufendes Tagesmanagement. Wobei, in ihren vier Wänden wusste sie die Vorzüge des gepflegten Chaos durchaus zu schätzen. Die Kamera delektiert sich geradezu an den Bergen des gehorteten Flohmarkt-Krimskrams. Den charakterlichen Widerspruch aber aufzulösen, das ist Gerlachs Sache nicht.
Der ehemalige Kunststudent und Darboven-Schüler drängt sich dafür an anderen Stellen in den Vordergrund, wenn er aus dem Off etwa ins Leere laufende Kommentare beisteuert, sich selbst bei Telefoninterviews filmt oder die Aufnahmen von der großen Retrospektive im Haus der Kunst in München mit belanglosen Kuratoren-Geplauder unterwandert. Dazwischen ruft er auch mal Prominenz in den Zeugenstand, etwa wenn Rainer Langhans von der gemeinsamen Internatszeit erzählt und sich mal wieder über Hannes Unnahbarkeit wundert, was seiner Meinung nach wenig überraschend daran liegen könnte, dass Sex in ihrer Schule tabuisiert wurde.
Auch die parallele Anwesenheit des früh verstorbenen fünften Beatles Stuart Sutcliffe an der Hamburger Kunsthochschule wird angetippt. Ob da was gelaufen war? Fest steht, dass Hanne zu Beatles-Konzerten ging. Der Sonderling war also nicht immer sonderlich und konnte durchaus mit der Masse mitschwimmen. Der für ihre Entwicklung wichtige Aufenthalt in New York wird im Vergleich zu diesen Mutmaßungen erstaunlich salopp abgehackt. Dabei kam sie doch hier ausgerechnet mit jenen Ideen in Kontakt, die ihren Kunstbegriff prägen sollten.
Am spannendsten wird die auf assoziative Leerstellen setzende Köpfe-Collage immer dann, wenn die 2009 verstorbene Darboven selbst in Archivaufnahmen zu Wort kommt. Dann erschließt sich ganz von selbst, warum die wohlhabende Kaufmannstochter heute als eine der wichtigsten Figuren der deutschen Nachkriegskunst gilt. Ob schlecht gelaunt und dominant, oder mädchenhaft glücklich ihrem Orchester lauschend, dieser hanseatische Dandy hatte eine besondere, sehr deutsche Präsenz. Und seinen mathematisch-melodischen Kompositionen möchte man auch noch nach dem Abspann lauschen.