In Schneeberg scheint sich die Zeit zu entschleunigen. Immer langsamer wird sie, nähert man sich etwa von einer großen Metropole wie Berlin oder Leipzig der alten Bergmannsstadt auf ihrer 470 Meter hohen Erhebung im Westerzgebirge, nimmt dann die S-Bahn bis nach Zwickau und wechselt für die letzten Kilometer in einen Linienbus, der über kurvige Landstraßen hinweg in die historische Silberstadt im Schatten der spätgotischen St.-Wolfgangs-Kirche fährt. Selbst die benachbarten Gipfel von Keils- und Gleesberg scheinen hier in fast mystischer Stille zu verharren, und die letzten Spuren gehetzter Zeit entflirren hell in der gleißenden Mittagssonne.
Wer Glück hat, der wird von irgendwoher mitgenommen: Franziska Heinze, eine 30-jährige Modedesignerin, die seit gut neun Jahren in der 15 000 Einwohner zählenden Stadt im oberen Erzgebirgskreis lebt, holt mich in Zwickau mit dem Auto ab. Wir haben uns hier verabredet. In Schneeberg will mir die junge Designerin Einblicke in eine Welt eröffnen, von der ich vorher noch nie gehört habe – ein Eldorado für Kreative nämlich soll diese einstige Bergmannsstadt sein; vielleicht sogar eine Art Bauhaus auf dem Lande?
Geheimtipp weit ab von den großen Metropolen
Die Straßen jedenfalls werden zusehends schmaler; die Menschen am Wegesrand langsamer. "Schneeberg liegt wirklich weit vom Schuss", sagt Heinze, drückt das Gaspedal ihres Kleinwagens noch einmal durch und nimmt Kurs auf ein altes Pochwerk im sogenannten Neustädtler Revier – einem langgezogenen Quartier am südlichen Ende der Stadt, wo einst fleißige Bergleute über 400 Jahre hinweg Silber- und Kobalterze abgebaut haben. Ganze 270 Kilo Silber hätten sie während des 15. Jahrhunderts aus dem kalten Berg geschürft. "Die ganze Region ist heute durchlöchert wie ein Schweizer Käse." Franziska Heinze lacht. Man merkt es der eigentlich aus der Nähe von Dresden stammenden Modemacherin an: Sie lebt gern in der historischen Stadt der einstigen Steiger und Bergbeamten. An der kleinen Schneeberger Fakultät für Angewandte Kunst hat sie vor einigen Jahren ihren Bachelor in Modedesign gemacht; in den alten Häusern rund um den Kirchplatz wohnen ihre Freunde. Wegziehen? Warum? "Man lernt in dieser anregenden Abgeschiedenheit zu improvisieren. Wenn man in Schneeberg etwas vermisst, dann muss man aus dem Knick kommen und die Dinge selbst in die Hand nehmen."
Die 30-Jährige vermisst ohnehin nur wenig: einen guten Studentenkeller vielleicht, ein größeres Atelier für ihre selbst entwickelte Upcycling-Mode, vor allem aber ein junges Festival für Design und Kunsthandwerk. So etwas wäre wirklich ein Traum. Nur müsste es etwas ganz Besonderes sein: etwas Frisches, Buntes – eine Art culture clash in der Provinz. Und da dies in der Stadt mit den vielen traditionellen Handwerksberufen und der längst weit über die Grenzen hinaus etablierten Design-Fakultät noch niemand auf die Beine stellen wollte, hat Heinze selbst die Initiative ergriffen. Zusammen mit drei ehemaligen Kommilitonen von der Fakultät – einem kleinen Ableger der Westsächsischen Hochschule Zwickau – hat sich die hochgewachsene junge Frau Gedanken darüber gemacht, wie ein optimales Kreativ-Event auf dem Lande aussehen müsste; ein Festival, auf dem sich das entlegene Schneeberg als das präsentieren könnte, was es nicht nur nach Meinung Heinzes lange ist: ein kreativer Geheimtipp weit ab von den großen Metropolen.
Designer, DJs und Handwerker
Wir treffen Heinzes Mitstreiter – die Textildesignerin Thekla Nowak, den Produktdesigner Lars Dahlitz und den Holzgestalter Markus Weber – am Rande des alten Schneeberger Pochwerks. Bis kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden hier Gesteine und Erze zerkleinert: Silber, Nickel, am Ende sogar das legendäre Wismut-Uran. Hier also, wo man die Geschichte der mehr als 500 Jahre alten Stadt mit Händen greifen kann, soll ab dem nächsten Sommer das neue Festival steigen – mitten in einer Industrie-Idylle, zwischen wassergetriebenen Radanlagen und hölzernen Erzsieben; auf Wiesen, in Ausschlagstuben, in Kobaltkammern. Das Wort "Creative Industries" könnte so einen ganz neuen Geschmack bekommen.
"Unser Konzept ist offen für alle", erklärt Thekla Nowak, die Jüngste in dem Organisationsteam. Ein Familienfest solle es werden; ein Mix aus hippen Designern, DJs und traditionellen Handwerkern. Da wären die Holzschnitzer und Spielzeugbauer, die Handschuhmacher und Klöpplerinnen. Letztere bildeten einst auch den Nukleus der 1962 gegründeten Fachschule für angewandte Kunst: Es war im Jahr 1882, als in Schneeberg die sogenannte Königliche Spitzenklöppelmusterschule eröffnete. Während von Frankreich aus eine Welle an Spitzenmoden über Europa schwappte, sollten in der Abgeschiedenheit des Erzgebirges Klöppellehrerinnen ausgebildet werden, die den neuen Chic wie Mode-Influencer im gesamten Land verbreiten sollten.
Traditionen wiederbeleben
In gewisser Weise war man in Schneeberg also immer schon am Puls der Entwicklung – und das trotz all der Ruhe und der fast verloren geglaubten Zeit. Nun wollen die vier die Traditionen also wiederbeleben: "Wir wollen das Alte mit dem Verschränken, was über Jahrzehnte daraus entstanden ist: angesagtes Möbel- und Produktdesign, Instrumentenbau, Mode- und Textilgestaltung." Der Titel ihres Festivals, für das bis zu 2000 Gäste erwartet werden, stehe schon fest: "Trubel in der Poche".
Es kann also losgehen. Fehlen nur noch die Gäste. Bis nach Berlin herüber soll das neue Festival strahlen. Schon jetzt entwerfen die vier emsig Flyer und Plakate. Denn wer nach Schneeberg will, benötigt Zeit. Er muss die kurvigen Straßen entlang und die Hügel hinauf. Im Gegenzug bekommt er aber auch viel Zeit geschenkt. Einen ganzen Nachmittag lang haben sich Franziska Heinze und ihre Freunde Zeit genommen, um durch eine der entlegensten Kreativschmieden der Republik zu führen.