Die Vorwürfe sind dieselben geblieben, auch über ein halbes Jahrhundert nach den ersten Auftritten der Wiener Aktionisten: Der Blasphemie und Tierquälerei wird Hermann Nitsch heute noch bezichtigt – nur die Form des Protests hat sich geändert. Als kürzlich eine Retrospektive des österreichischen Künstlers in Palermo eröffnet werden sollte, forderten 70.000 Unterzeichner einer Petition auf Change.org, dass die Ausstellung abgesagt werde. Schon Anfang des Jahres nutzten Aktivisten diese Plattform, um gegen eine geplante Schau des 77-Jährigen im Museo Jumex in Mexiko-Stadt zu protestieren. Mit Erfolg: Die Ausstellung wurde tatsächlich verworfen.
Das Internet erleichtert und beschleunigt Protest. Die Petitionsaufrufe gegen Nitsch starteten jeweils vor Ausstellungsbeginn, ein Dialog zwischen Kunst und Rezipienten konnte erst gar nicht in Gang kommen, und die Vermittlung und Einordnung durch Museen, Kritiker oder Kuratoren fehlte. Veröffentlicht eine Tierschutzorganisation Bilder von Nitschs "Orgien Mysterien Theater", bei dem die Darsteller Tierkadaver und -blut für quasireligiöse Rituale nutzen, glauben auch Aktivisten, die vorher nie mit Kunst in Berührung waren, sich ein Urteil bilden und eigene politische Ziele über die Freiheit der Kunst stellen zu können.
Einer ähnlichen Hysterie wie Hermann Nitsch sah sich im Mai Anish Kapoor ausgesetzt, als er auf der christlichen Plattform CitizenGo eine Online-Petition von 19.500 Unterzeichnern erhielt, die mit der Ausstellung des indisch-britischen Künstlers im Schlosspark Versailles die kulturellen Werte Frankreichs und die Würde der Frau in Gefahr sahen. Eine Skulptur wurde schließlich mit Farbbeuteln beworfen. Auch dem Vandalismus gegen eine Skulptur von Paul McCarthy letztes Jahr in Paris gingen Hassaufrufe im Internet voraus.
Wenn Online-Proteste erst zu Shitstorms ausufern oder gar zu physischer Gewalt führen, muss der Künstler mit einer anonymen, nicht greifbaren Masse kommunizieren. Nitsch bezeichnet seine Kritiker im Zeitungsinterview als "Feinde der Kunst", Kapoor ließ über seine Galerien ein Statement verbreiten, in dem er seinen Gegnern Intoleranz vorwarf.
Kunst bedeutet immer Auseinandersetzung, und die digitalen Verbreitungsmöglichkeiten können zu einer Demokratisierung der im Kunstbetrieb besonders hierarchisch geordneten Diskussion führen. Problematisch wird es allerdings, wenn der Kunst die Einordnung fehlt und der diskursive Austausch von Argumenten im Shitstorm-Unwetter untergeht und durch Hysterie ersetzt wird.