Google archiviert Streetart

Digitales Feigenblatt

Google will Streetart bewahren und der Weltöffentlichkeit zugänglich machen. Obwohl Straßenkunst flüchtiger Natur ist, spricht nichts gegen das Archivieren. Die wahren Gefahren lauern an anderer Stelle. Ein Kommentar des Kurators Lutz Henke

Vor zehn Jahren erklärte Klaus Wowereit in seinem Grußwort zum internationalen Anti-Graffiti-Kongress „NOFITTI“, dass verschandelte Fassaden nicht nur Eigentumsrechte verletzten, sondern ein Eingriff in das Stadtbild seien, von dem sich viele Bewohner belästigt fühlten. Auch eine ideelle Unterstützung als Schirmherr von Streetart-Ausstellungen wie „Planet Prozess“, wo das kürzlich übermalte Cuvrystraßen-Wandgemälde der Künstler Blu und JR entstand, lehnte der damalige Regierende Bürgermeister ab.

Heute sind besagte „Eingriffe“ die bunten Visitenkarten der Stadt, mit denen Berlin im internationalen Wettstreit der Metropolen um Besucher (oder Olympia) buhlt. Sogar die Senats-Webseiten schmücken sich mit Streetart, beispielsweise zur Illustration des „Kreativbezirks Kreuzberg“. Das Konzept geht auf, denn genau dort – in unmittelbarer Nähe von East Side Gallery und großflächigen Wandgemälden – präsentierte Google die 160 neuen „Online-Galerien“ seines „Street Art Projects“ und konnte sich keinen „passenderen Ort“ dafür vorstellen. Kultur-Staatssekretär Tim Renner betonte bei der Vorstellung am Dienstag, die Freiräume für Kreative hätten „die Stadt groß gemacht“. Er gehört selbst zu denen, deren Unternehmen einst dem Ruf der Kunst an die Spree folgten und warnt nun gar vor dem Verlust des kulturellen Kapitals durch die Monetarisierung.

Der Berliner Senat hat dazugelernt und seine Einstellung zur Straßenkunst grundlegend geändert. Und das ist auch gut so. Denn so berechtigt die Zweifel an der künstlerischen Qualität der oft gefälligen, öffentlichen Ausdrucksform sind: Sie steht zweifelsohne für eine Stadt der Freiräume und für eine Demokratisierung der Gestaltungshoheit im Stadtraum, die nicht mehr allein eine Frage des Geldes und damit den Werbebotschaften oder Bauherren vorbehalten ist.

Streetart hat sich eine Grauzone erkämpft, die von öffentlicher Akzeptanz genährt wird. Das bezahlt sie indirekt mit ihrer Vereinnahmung und Verwertung durch die Stadt oder Unternehmen. Die Schmierfinken von gestern sind die Tourismusmagneten von heute. Genau diesen Kommunikationsmehrwert wird Google erhalten und potenzieren. Das kann allen Interessierten, vom Fan über den Forscher bis zur Stadt - sogar den Künstlern - nur recht sein; zumal Google seinen Partnern bei den von ihnen kuratierten „Ausstellungen“ alle Rechte und Pflichten lässt. Ob der Streetart noch ein Funken Subversion bleibt, ob eine öffentliche Datenbank eines Unternehmens mit öffentlicher Kunst eine Verwertung darstellt und ob die VG-Bild-Kunst gar wagen wird, die Rechte ihrer Urheber zu vertreten, ist fraglich.

Welche Algorithmen lernen und arbeiten im Hintergrund?

Der Datenkrake Google kann das gleichgültig sein. Sie hat eine Ressource an der Spitze des technisch Möglichen geschaffen, die mit extrem hoher „Gigapixel“-Auflösung bisherige digitale Bilddatenbanken übertrifft; ein Entwicklungsaufwand, der finanziell jenseits der Reichweite öffentlicher Forschungseinrichtungen liegt. Gerade die Kunsthistoriker und Denkmalpfleger werden – wie bei vielen Produkten des Unternehmens – nur ungern auf den Komfort des neuen Werkzeugs verzichten wollen. Sie wären es auch, die mit fachlicher Kompetenz und von Wirtschaftlichkeit unabhängig diese Archive betreuen und kontrollieren sollten.

Dass Google seine Technik stattdessen selbst unter Kontrolle hält, ist wenig verwunderlich. Man sammelt jetzt eben auch noch Daten zur Nutzung visueller Datensätze, zu bedeutenden Kunstwerken und deren „Gebrauchswert“. Was die Verwertung dieser Daten bedeutet, können wir uns noch nicht einmal vorstellen. Wer weiß schon, welche Algorithmen im Hintergrund lernen und arbeiten? Vielleicht erfahren wir bald, welche ästhetischen Muster, den maximalen Werbeeffekt bei einer Zielgruppe entfalten oder welcher aufstrebende Künstler die höchste Rendite bringen wird. Das Unternehmen greift damit nach der Gestaltung der Vergangenheit, denn - wie Walter Benjamin sagt - „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“.

Die bedenkliche Tendenz der Formung von kommerziellen Wissens- und Datenmonopolen gehört zu den viel diskutierten Herausforderungen unserer Zeit, die uns noch lange beschäftigen werden. Die Frage, wer die Bilder zu welchem Zweck verwertet oder kontrolliert, ist ein grundsätzliches Problem des „Google Art Projects“. Es betrifft die digitalisierten Museumssammlungen ebenso. Für Kunst im öffentlichen Raum, deren Grundlage die städtischen Freiräume sind, birgt das Projekt noch eine andere, viel greifbarere Gefahr, die nichts mit den Interessen eines Unternehmens in Mountain View zu tun hat.

Virtuelles Make-Up verdeckt den Abriss lebendiger Kreativräume

Die Streetart-Galerien sind nämlich eine Art virtuelles Make-Up, das mit hochaufgelösten Standortportfolios eine eigene Realität vorgaukeln kann. Zu Teilungszeiten wurden die bunten Bilder an der Westseite der Berliner Mauer kritisiert, weil sie als Sichtblende die monströse Natur des Bauwerks kaschierten. Genauso könnte digitales Bewahren verschleiern, dass ebendieser Kunst gerade die Existenzgrundlage entzogen wird. Das „Street Art Project“ liefert die Möglichkeit, das Image der Künstlerstadt virtuell zu konservieren, während die von Renner betonten Möglichkeitsräume im realen Berlin vollends zu verschwinden drohen. Hinter dem digitalen Feigenblatt könnte in aller Ruhe der Abriss der lebendigen Kreativräume vollendet werden.

Die East Side Gallery, einer der nun voll digitalisierten Berliner Partner, ist ein gutes Beispiel dafür. Sie entstand vor 25 Jahren im Freudentaumel über den Mauerfall als ein öffentliches Kunstobjekt mit Verwertungsgedanken. Bei aller Uneinigkeit über die Ziele, die Zweckmäßigkeit der Renovierung oder die ahistorische Vernichtung der lebendigen Graffiti-„Hall of fame“ auf der Spreeseite, ist es das große Verdienst der Initiative – mit dem Argument der Kunst – das längste Stück der Berliner Mauer als Denkmal bewahrt zu haben. Das zivilbürgerliche Engagement und Geschichtsbewusstsein reichte hier – wie auch bei Pfarrer Manfred Fischer an der Bernauer Straße – viel weiter als das Verantwortungsgefühl der Politik.

Es ist gut, dass die Bilder der East Side Gallery und auch die Konflikte darum nun zugänglich und dokumentiert sind. Der Fall ist allerdings besonders tragisch: Soeben hat der Bund entschieden, eine Aufnahme der Galerie in die Stiftung Berliner Mauer nicht mitzufinanzieren. Bereits 2013 wurde das Denkmal zugunsten von Hochpreisimmobilien teilweise zerstört und wird nun durch zwei Neubauten zum bunten Gartenzaun degradiert. Das ist Vandalismus an der eigenen Geschichte. Digitale Archivierung und Internet-Aufmerksamkeit können das nicht kompensieren. Ein unersetzlicher Ort wie die East Side Gallery müsste bei Maximalforderungen bleiben: Ihre Aufnahme in die Stiftung Berliner Mauer, Schließung des Durchgangs, bevor dieser selbst Teil des Denkmals wird, den zweiten Neubau verbieten und den ersten abreißen, um das Fundament als mahnendes Denkmal stehen zu lassen. Angesichts der exponentiell steigenden sozialen und kulturellen Kosten sollte uns als Öffentlichkeit das auch eine horrende Entschädigungssumme Wert sein, selbst wenn wir dafür noch ein paar Jahrzehnte auf unseren Großflughafen verzichten müssten.

Voraussetzung für unabhängige Kunst im öffentlichen Raum bewahren

Das Konservieren und Archivieren vergänglicher Arbeiten, oft selbst gegen den Willen von Künstlern, ist wichtig – für unser kulturelles Gedächtnis und Erbe, das von Archivaren, Historikern und Denkmalschützern gepflegt wird. Es darf aber nicht als Wirklichkeitsersatz oder Sichtblende missbraucht werden.

Google hat den hehren Anspruch, Streetart für die Zukunft zu bewahren. Das wird nur möglich sein, wenn wir die Voraussetzungen für unabhängige Kunst im öffentlichen Raum bewahren und nicht bloß digitale Abbilder davon. Bei allen Vorzügen hoch auflösender und frei zugänglicher digitalisierter Straßenkunst sollten wir nicht den Bezug zur Realität verlieren. Wir müssen sogar aufpassen, dass wir nicht bald in einem vollends virtuell-imaginären Berlin leben, das lediglich als Topos in der Vorstellung von Besuchern existiert und sich nur noch an die bunten Bilder der Vergangenheit erinnert.


Kurator Lutz Henke war Stipendiat am Institut für Raumexperimente, unterrichtete im Master-Studiengang Raumtheorien an der KHB Weißensee und arbeitete für und mit zahlreichen Institutionen wie dem HAU - Hebbel am Ufer, der Stiftung Berliner Mauer, dem Deutschen Historischen Museum oder dem Guggenheim Museum New York. Er forscht und publiziert zum Thema „Mauerkunst“ und leitete bis zu dessen Abriss den Ausstellungsraum im einstigen „Senatsreservenspeicher“ in Berlin Kreuzberg. Dort war er 2007 an der Entstehung und 2014 an der Übermalung der „Cuvry-Wandgemälde“ des Künstlers Blu beteiligt. Zur Geschichte und Zukunft der Wände organisiert Henke von 22. bis 28. März ein Programm im Rahmen von MaerzMusik, Thinking Together - The Politics of Time.