Chris Dercon, was wollen Sie an der Volksbühne verändern?
Ich werde freier Produzent sein, und ich biete den Mitarbeitern und Künstlern ein Haus an, in dem man die darstellende Kunst weiterentwickeln kann – im Dialog. In verschiedenen Formaten und Dimensionen. Ausgangspunkt ist ein Ensemble aus Schauspielern und Tänzern. Das Herzstück werden Eigenproduktionen sein. Die Volksbühne hat immer wieder, in Gestalt von Castorf, Schlingensief, Pollesch und sicherlich Bert Neumann, die Stadt inszeniert. Diese Inszenierung möchte ich weitertreiben.
Wie genau?
Der Rosa-Luxemburg-Platz ist eine der letzten Inseln, die noch nicht komplett durchgentrifiziert sind. Das hat mit der leeren Mitte, mit dem Kino Babylon, mit den Galerien BQ oder Christian Nagel, aber auch mit dem Büro der Partei Die Linke zu tun. Ich sehe hier ein Fadenkreuz in der Stadt mit der Ost-West-Achse, die beim 2019 fertig renovierten Bauhausmuseum anfängt, über das hoffentlich neue Museum am Kulturforum und die Neue Nationalgalerie weiterreicht bis zur Volksbühne, und eine Nord-Süd-Achse, vom Prater an der Kastanienallee bis zum großen, industriell wirkenden Hangar des Flughafens Tempelhof. Das interessiert mich: die Stadt mit den darstellenden Künsten zu inszenieren, indoor und outdoor. Wenn Castorf im kommenden Jahr die Volksbühne zur Einheitsbühne macht, in der die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum verschwindet, dann ist das wunderbar, aber man braucht die Volksbühne als Bühne, und solche Dinge kann man auch im Hangar in Tempelhof inszenieren. Außerdem denke ich, man sollte an jedem Wochentag Programm machen. Was Berlin braucht, ist eine Doppelstruktur von Theater und Tanz. Der Dialog ist längst entwickelt, und die „neue volksbühne“ ist der Ort dafür.
Wie lautet Ihre Position an der Volksbühne?
Ich bin Intendant. Und ich will das Theater weiterentwickeln, auch in den neuen Medien. Die Arbeit von Castorf und Peymann kennt man weltweit – über YouTube. Also habe ich gedacht, man braucht ein Globaltheater fürs 21. Jahrhundert, in das Regisseure, Choreografen, Tänzer, Musiker eingeladen werden, für das Netz Formate zu entwickeln – für eine digitale Bühne. Dann habe ich fünf Satelliten, die Volksbühne, den Prater, das wunderbare Babylon, den Hangar und die digitale Bühne. Das ist der Ausgangspunkt, die Stadt zu inszenieren.
Verstehen Sie die Sorgen und Ängste der altgedienten Theaterleute, die sagen, Sie machen das Theater kaputt?
Man muss sich nur noch einmal anschauen, was beim Theater-Hearing von Antje Vollmer im Jahr 2004 passiert ist – damals lautete nicht zufällig schon das Motto: Event oder Ensemble. Diese ganze Diskussion dauert doch schon über zehn Jahre an. Was ist die Zukunft des Theaters, was muss man entwickeln, was ist die Struktur? Immer redet man über Arbeitsbedingungen und Finanzstrukturen. Dabei müsste man über wirklich neue Modelle nachdenken. Ich sage nicht: Man braucht ein Labor, sondern neue Strukturen. Dennoch ist die Erfahrung der Volksbühne eminent wichtig: Es ist kein Festival, sondern ein Haus. Eigentlich ist jeden Abend Festival, aber eben in einem Haus.
Was sagen Sie denen, die sagen, Sie sind kein Theatermann, sondern ein Kurator?
Das Unglaubliche ist: 1985 habe ich meine erste Ausstellung kuratiert, bei einem Tanzfestival, auf dem Merce Cunnigham, John Cage, aber auch Anne Teresa De Keersmaeker aufgetreten sind, und ich wurde eingeladen, innerhalb des Theaterfestivals eine Ausstellung zu machen, mit Bruce Nauman, Thomas Schütte, Dan Graham und vielen anderen. Es gab diese Verbindung in meiner Arbeit von Anfang an. Und nicht nur die Tate, viele andere Museen strecken die Fühler zu den temporären und darstellenden Künsten aus – und umgekehrt! Wir können nicht so tun, als sei das ein Novum. Und die Museen haben die Strukturen nicht, auch nicht die Werkstätten und die Dramaturgen. Auf der anderen Seite wollen die Theater mit den Museen zusammenarbeiten, die ihrerseits an Experimenten interessiert sind. Mit manchen Künstlern ist an den Museen aber auch die Zusammenarbeit schwierig, man denke an die Diskussionen über Pierre Huyghes Hund und seine Eisarbeiten am Centre Pompidou, oder über Matthew Barney am Münchner Haus der Kunst. Hier bietet das Theater ganz andere Möglichkeiten. Wohlgemerkt: Ich bin überhaupt nicht daran interessiert, große Künstlernamen auf die Bühne zu bringen. Auch nicht daran, dass Helene Grimaud auf der Bühne Klavier spielt und ein Künstler macht eine Wasserinstallation dazu. Was mich interessiert, ist, Stücke für die Bühnen zu entwickeln in unterschiedlichen Dimensionen.
Aber nicht alleine?
Ich habe einen kleinen Club von Komplizen, die mit mir über Neuerungen nachdenken wollen. Der französische Choreograf Boris Charmatz, die dänische Choreografin Mette Ingvartsen, der Filmregisseur und Produzent Romuald Karmakar, die Theaterregisseurin Susanne Kennedy werden in den kommenden Jahren inszenieren - und auch Alexander Kluge, denn ich muss natürlich auch an den Generationenwechsel denken, und Alexander ist viel älter als Peymann und Castorf. Deshalb Kluge. Nicht dass er inszeniert, aber mit ihm habe ich viel nachgedacht in den vergangenen Jahren. Alexander hat seit Langem mit Frank Castorf und der Volksbühne und mit mir zusammengewirkt, auch er hat seine Zusammenarbeit zugesagt. Romuald Karmakar ist für mich ein Pionier einer sehr präzisen Form von Theatralizität. Und Susanne Kennedy, Ingvartsen und Charmatz werden von vielen Festivals eingeladen, sind sehr gut vernetzt, eilen von Koproduktion zu Koproduktion und gießen ihre Denkansätze in Strukturen, die das Bestehende weiterentwickeln. Eine Regisseurin wie Susanne Kennedy ist überall begehrt, die anderen ebenso. Ingvartsen ist eine Allrounderin, Karmakar kennt sich in Film und Theater, aber auch in elektronischer Musik aus.
Werden Sie mit den an der Volksbühne bestehenden Regisseuren weiterarbeiten?
Ich werde gerne mit allen etwa 232 Mitarbeitern der Volksbühne Gespräche führen. Das bedeutet, auch mit Castorf, mit Rene Pollesch, mit Herbert Fritsch. Ich bin ein großer Fan von Pollesch, und das Team hat eine Programmdirektorin, die ich lange kenne, die Dramaturgin, Kritikerin und Ruhrtriennale-Programmdirektorin Marietta Piepenbrock, die bereits mit Jürgen Flimm zusammengearbeitet hat. Die Reaktionen auf die sich verändernden Strukturen sind in Großbritannien jedenfalls grandios, in London und in Manchester, wo ein wichtiges Festival zu Hause ist. Und Berlin gehört, auch wegen der großartigen Tradition der Volksbühne, die Zukunft.
In Berlin hagelt es Kritik, in London hatten Sie eine hoch angesehene Stellung. Warum der Wechsel? Wessen Idee war das?
Die Idee von Tim Renner. Meine Reaktion: Wow! Renner ist sehr vernünftig, angenehm, sehr präzise, generös. Dass ich die Möglichkeit habe, einen professionellen Plan zu entwickeln über das Theater und sein Verhältnis zur Stadt, habe ich ihm zu verdanken.
Freuen Sie sich auf die Auseinandersetzungen?
Sie finden schon statt, aber wie gesagt, sie wiederholen die Diskussionen von 2004. Nichts Neues. Das bedeutet, das Theater stellt sich diese Fragen schon lange, zur eigenen Zukunft, zum eigenen Verhältnis zum Event. Wir können ein Modell anbieten. Nicht für ein Festival nach Geld suchen, sondern ruhig programmatisch arbeiten. Zweitens: Berlin hat sich geändert. Die Volksbühne war immer schon ein Patchwork von unterschiedlichen Publika. Das Kunstpublikum hat die Volksbühne schon sehr früh entdeckt. Berlin ist heute eine kosmopolitische Stadt. Aber das internationale Publikum versteht die deutschen Texte nicht. Die deutschen Texte sind ungeheuer wichtig! Aber man muss auch verstehen, dass dem Wandel des Publikums Rechnung getragen werden muss mit einer anderen Art von darstellender Kunst. Nicht nur in Form von Festivals wie den wunderbaren Berliner Festspielen oder wie im HAU. Ich möchte gerne an jedem Abend etwas sehen können, was mich anspricht. Man muss nachdenken über eine Repertoirestruktur, die keine Ausnahme, sondern die Regel ist, dann wird sie auch ernst genommen.
Überrascht Sie die Wucht der Kritik?
Was mich gewundert hat: Die jetzige Diskussion über Theater und Kunst ist nicht nur alt, sie ist auch total regressiv. Ein Erwin Piscator würde sich im Grabe umdrehen. Unglaublich. Man spricht über Dialoge wie Heiner Goebbels oder Christoph Schlingensief, aber dann heißt es auf einmal, nein, das ist mein Terrain, hier kommst du nicht rein. Ich versteh das, kein Problem. Als es um den Begriff Kurator ging, wusste ich nicht, dass das ein Schimpfwort ist. Das kommt aus der angelsächsischen Kirche, es bezeichnet einen jungen Priester, der im 15., 16. Jahrhundert jeden Morgen die Reliquien zählt und die Kerzen anzündet und abends die Kerzen ausmacht und die Reliquien zählt. Darauf habe ich keine Lust. Und wenn ich an Event denke, dann denke ich an Derrida, der gesagt hat, das ist ein Bruch, ein Punkt, ein Komma, leider habe ich zu viel Derrida gelesen. Und jetzt redet man über Neoliberalismus. Meine Güte! Ich bin einer der Ersten gewesen, die sich zu Prekariat, Selbstausbeutung und neuen Arbeitsverhältnissen geäußert haben. Ich habe damals gesagt, der Enthusiasmus der Selbstausbeutung ist eine Gefahr, weil sie eine Parallelökonomie etabliert. Diese Diskussionen können wir in die Volksbühne mit hineinnehmen. Ich habe für die Gehälter der Tate-Mitarbeiter gekämpft: So etwas interessiert mich auch. Kunst kann sich nicht unabhängig von Mikro- oder Makroökonomien weiterentwickeln. Das bedeutet aber auch, kein Theater ist eine Insel.
Werden Sie London vermissen?
Ich werde die Tate vermissen, aber ich komme nicht, um das Theater zu retten – das kann ich nicht. Nebenbei – der Wechsel dauert noch zwei Jahre! Die bildende Kunst muss das Theater nicht retten – vielleicht ist eher sie es, die gerettet werden muss. Sie ist so durchökonomisiert, dass ich für sie nicht so optimistisch bin. Darstellende Kunst kann man nicht besitzen, man muss sie wollen. Das Theater ist ein Ort der Begegnung, das Museum aber auch. Das Theater ist ein realer und ein symbolischer Ort, es erzeugt eine offene Situation von Menschen für Menschen. Es sollte keine Angst davor haben, sich noch mehr zu öffnen.