Kate Winslet schaut in den Abgrund
Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Der Satz von Friedrich Nietzsche gilt für Lee Miller ganz bestimmt. Ellen Kuras' sehenswertes Biopic "Die Fotografin" mit einer grandiosen Kate Winslet in der Rolle der US-Amerikanerin, die 1945 in Dachau fotografierte und der britischen "Vogue" auch Bilder aus einem zerbombten und moralisch zerrütteten Deutschland lieferte, erzählt ihre Geschichte.
Dazu gehört auch die Wut Lee Millers darüber, dass die Zeitschrift ihre Fotos von Schrecken und Untergang nicht abdruckt. Und das legendäre Foto des ehemaligen Models in Hitlers Badewanne – zu dessen Entstehung Kuras eine Art Making-of liefert. Hitler zieht immer, aber: Lee Millers Bilder über Krieg und Shoah wurden lange nach dem Tod der Fotografin veröffentlicht. Sie hatte sich schon in den 1940er-Jahren weitgehend ins Privatleben zurückgezogen. Kate Winslet spielt sowohl die verbitterte alte Frau in den Rahmenszenen während eines Interviews als auch die junge, mutige Fotografin. Nicht zuletzt wegen dieser Ausnahmeschauspielerin lohnt sich der Film.
"Die Fotografin", Amazon Prime zum Leihen und Kaufen

Andrea Riseborough (links) als Audrey Withers und Kate Winslet als Lee Miller in einer Szene des Films "Die Fotografin"
Die Suche nach dem inneren Frieden
Um Kriegsfotografie und das, was sie mit Reportern macht, geht es auch in diesem Filmporträt des ehemaligen Bildjournalisten Steffen Diemer - und das kommt ganz ohne Hollywood-Glamour aus. Für Agenturen und Magazine ist der Fotograf jahrelang durch Krisengebiete wie Afghanistan, den Irak oder Libyen gereist, hat Landminenopfer, verletzte Kinder und Soldaten abgelichtet. Dann erlitt er jedoch selbst ein Trauma und ist seitdem auf der Suche nach seinem inneren Frieden.
Dabei hilft ihm wiederum die Fotografie, aber auf eine ganz andere Art als in seinem vorherigen Leben. Während es früher um Sekundenbruchteile und ständige Bewegung ging, verdammt ihn sein Wahlmedium in Deutschland nun zur Langsamkeit. Diemer inszeniert Pflanzen und Objekte mit einer Kollodium-Nassplatten-Kamera: einer Technik, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden wurde und viel Zeit und Materialkenntnis erfordert. Genauso meditativ wie das Verfahren ist auch dieses Filmporträt. Vorsichtig tastet es sich an einen Menschen heran, der für Bilder lebt. Und der sich nun ganz langsam in eine neue künstlerische Welt ohne Krieg vortastet.
"Steffen Diemer - Vom Kriegsreporter zum Fotografen der Stille", SWR-Mediathek, bis 4. August

Der Fotograf Steffen Diemer mit seinem Kamera-Ungetüm
Ein Dschungelfiebertraum der Künstler-Bohème
Am 6. September 1951 erschoss William S. Burroughs in Mexico-City seine Ehefrau. Der spätere Autor des Romans "Naked Lunch" war schwer betrunken und wollte den Apfelschuss aus Schillers "Wilhelm Tell" nachstellen. Eine ähnliche Szene findet sich in "Queer“, nur dass die Kugel einen jungen Mann niederstreckt und der Schütze William Lee heißt.
Seit "A Bigger Splash“ und "Call Me by Your Name“ ist der italienische Regisseur Luca Guadagnino weltbekannt. Sein neuester Film, der nun bei Mubi als Stream verfügbar ist, basiert auf der Novelle "Queer", die Burroughs direkt nach dem Vorfall in Mexiko schrieb und die autobiografische Züge trägt. Wer die Erzählung gelesen hat, hätte sich kaum vorstellen können, dass diese halluzinierende Story als Filmstoff taugt. Und doch hat Guadagnino es mit visuellen Mitteln geschafft, diese Welt zwischen Rausch und Wirklichkeit auf die große Leinwand zu transportieren. Das zwischen Künstlichkeit und Realismus pendelnde Set-Design, die luzide Fotografie (Kamera: Sayombhu Mukdeeprom), die von Elektronik über Rock bis hin zu Pop und Indie reichende Musik von Trent Reznor und Atticus Ross und die darstellerischen Leistungen – allen voran Ex-James-Bond Daniel Craig als sehnsüchtiger und dem Alkohol und Heroin verfallener William Lee – schicken das Publikum auf eine visuelle Achterbahnfahrt erster Güte.
"Queer", bei Mubi

Daniel Craig in "Queer", Filmstill
Ein Kunstschiff der Hoffnung
Seit 2010 liegt ein umgebauter Frachtkahn fest vertäut am Ufer der Seine. Die Adamant ist eine schwimmende Tagesklinik, der Nicolas Philibert einen eindringlichen und optimistischen Dokumentarfilm gewidmet hat. Die Menschen, die freiwillig an Bord der Einrichtung gehen, werden therapeutisch begleitet, können sich aber vor allem künstlerisch entfalten. Sie schreiben Chansons, veranstalten Filmfestivals, dichten, malen und zeichnen.
"Auf der Adamant" – so lautet der Titel des 2024 mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichneten Films – demonstriert, wie es in Zeiten überlasteter Gesundheitssysteme gelingen kann, zugewandt und offen mit psychischen Erkrankungen umzugehen. Aus sensiblen Beobachtungen und Gesprächen entsteht das leichtfüßige Porträt einer Einrichtung, deren Existenz Hoffnung macht.
"Auf der Adamant", 3-Sat-Mediathek, bis 12. März

"Auf der Adamant", Filmstill, 2023
Das Schöne und das Schräge
Was ist außergewöhnlich? Was ist normal? Ist Exzentrik eine Form des Widerstandes? Und ist die vermeintliche Normalität vielleicht sogar das Schrägste, was es gibt? Der 50-minütige Dokumentarfilm "Exzentrisch - Die Kunst der Andersartigkeit" begibt sich auf Spurensuche nach all dem, was ex, also außerhalb, des Zentrums liegt. Viele Künstlerinnen und Künstler kommen zu Wort, wechseln sich dabei mit Kunstkritikerinnen oder Museumsleitern ab. Ein buntes, wirklich buntes, Spektrum der Außergewöhnlichkeit.
Nicola Graef zeigt in ihrem Film mit interessiertem und gleichzeitig sensiblem Blick historische Referenzen und Werke, sowie zeitgenössische Positionen, die bewusst die Vernunft und Logik infrage stellen.
So wie das Künstlerpaar Eva und Adele als perfekt gestylte "Hermaphrodit-Zwillinge" aus der Zukunft: sie lächeln einfach über ihre "Nonkonformität" hinweg. Der Filmemacher und Performancekünstler John Bock stellt sein Werk "Koffervortrag" mit dem Titel "Appoximation-Rezipientenbedürfnis-Chroma-Uhr-Ultra-Material-Minimax" vor, bei dem nicht nur der Titel verwirrt. Andy Warhol, Van Gogh, Salvador Dalí oder François Boucher beweisen, dass dieses "zu Grelle", "zu Fremde", "zu Grenzüberschreitende" nach einem Moment der gesellschaftlichen Ablehnung zu einem neuen Ästhetikverständnis führen kann. Es ist jedoch nicht unbedingt empfehlenswert, nebenher Popcorn zu essen, da die blutigen Performances der Wiener Aktionisten ebenfalls Teil des Films sind, genau wie Szenen von Schönheitsoperationen. Hier wird auch das Publikum aus der Komfortzone gelockt.
"Exzentrisch - Die Kunst der Andersartigkeit", Arte-Mediathek, bis 13. April 2028

Eva und Adele in "Exzentrisch - Die Kunst der Andersartigkeit", Filmstill
Die hybride Figurenwelt des Malers Oska Gutheil
Auf den Bildern des Berliner Malers Oska Gutheil ist nichts eindeutig. Phantastische Mischwesen bevölkern die Leinwände, die menschlichen Figuren, die sich oft in absurden Situationen befinden und wie vom Betrachter ertappt aussehen, sind weder männlich noch weiblich. Ob seine Kunst queer ist, fragt ihn Tarik Tesfu in der dreiteiligen ARD-Kultur-Serie "A Glamorous Takeover", in der der Moderator und Entertainer nach fluiden Geschlechterbildern in der zeitgenössischen Kultur sucht.
In seinem Atelier in Kreuzberg erzählt Oska Gutheil, der sich selbst als trans Person identifiziert, dass seine queere Identität auch seine Kunst beeinflusst. Auch seine Transition hat der Maler in Bildern thematisiert, die gleichzeitig psychologisch aufgeladen und humorvoll sind. Der Künstler will sich jedoch nicht auf ein Thema reduzieren lassen. Queerness könne auch darin bestehen, dass es in der Kunst keine Festlegungen geben muss, dass alles vielschichtig und hybrid ist.
"Glamorous Takeover" will sich einer Definition von Queerness in der Kunst annähern, zeigt aber auch, wie vielfältig und individuell der Umgang von Kreativen mit dem Thema ist. In den anderen beiden Folgen der Serie trifft Tarik Tesfu die Drag-Künstlerin Hungry und stellt die Ballroom-Kultur in Deutschland vor.
"Glamorous Takeover - Queere Kunst", ARD Kultur

Oska Gutheil mit Hund Maggie
Eine moderne Odyssee
In der physisch erfahrbaren Welt zeigt die nomadische Kunstinstitution LAS gerade eine opulente Ausstellung der Künstlerin Laure Prouvost im Kraftwerk Berlin. Aber auch online lässt sich dort regelmäßig Kunst entdecken, aktuell zum Beispiel die Videoarbeit "Portals" von Künstlerin Sonya Dyer und Schriftsteller:in Rivers Solomon. Das Werk ist für die LAS-Reihe "To Fracture Time Means To Create An Otherwise" entstanden, in der Autorinnen und Künstler zusammenarbeiten und mit Elementen der Science Fiction neue Welten erschaffen.
Die Arbeit "Portals" erzählt mit computergenerierten und gefilmten Bildern eine moderne Odyssee-Geschichte. Darin ertrinkt die Protagonistin Amal nahe der Meerenge von Gibraltar und gelangt dadurch in mystische Welten. Sie begegnet fantastischen Wesen, aber auch einem der drängendsten Themen unserer Gegenwart: den vielen tausenden von namenlosen Migrantinnen und Migranten, die auf der gefährlichen Überfahrt nach Europa im Mittelmeer ihr Leben verlieren.
Sonya Dyer und Rivers Solomon "Portals", LAS online, bis 31. Dezember

Sonya Dyer und Rivers Solomon "Portals", Filmstill, 2024
Hamlet als Computerspiel-Held
Es ist 2021, Großbritannien steckt mitten im dritten Corona-Lockdown. Die Schauspieler Sam und Mark sind durch die Versammlungsverbote und Schließung der Theaterhäuser arbeitslos und verbringen ihre unfreiwillig erlangte Freizeit damit, ihre Avatare durch die Straßen der fiktiven Stadt Los Santos im Onlinespiel "Grand Theft Auto" streichen zu lassen. Auf der Flucht vor der Polizei stoßen sie auf ein leeres Freilufttheater. Von Nostalgie erfüllt, stellt sich Mark auf die virtuelle Bühne und beginnt, "Macbeth" zu zitieren: "Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht. Sein Stündchen auf der Bühn', und dann nicht mehr." Ist der spontane Shakespeare-Monolog eigentlich als zynische Replik auf ihre eigene Situation gemeint, entfacht er in den Schauspielern eine irrwitzige Idee: Könnte man nicht hier, im Computerspiel "GTA", eine Aufführung von "Hamlet" auf die Beine stellen? Gesagt, getan.
Nach kurzer Euphorie stellt sich jedoch die Ernüchterung ein: Die Proben, die im Videospiel stattfinden, werden ständig durch Massenschießereien behindert, und die schrittweise Aufhebung der Kontaktbeschränkungen in der realen Welt bedeuten auch, dass die meisten der am Stück Beteiligten wieder ihre Jobs aufnehmen. Nur Sam und Mark sind weiterhin ohne Anstellung. Der Druck der Regierung auf Kreative, umzuschulen, löst Selbstzweifel und Frust in ihnen aus – ein Sinnbild für die Debatten, die während der Corona-Krise über die gesellschaftliche Relevanz von Kunst und Kultur geführt wurden.
Pinny Grylls preisgekrönter Dokumentarfilm "Grand Theft Hamlet", vollständig in dem Computerspiel gedreht, ist nun bei Mubi erstmals im Stream zu sehen. Es verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, baut sich doch eine Dramaturgie auf, die die Tragikomik des Geschehens pointiert darstellt und das Publikum mit den Figuren mitfühlen und mitfiebern lässt. Dabei werden immer wieder die Parallelen zwischen der Welt von "GTA" und der des elisabethanischen Klassikers offengelegt.
Männliche Wut und Gewalt, die im Stück ebenso ausgelebt werden wie im Spiel, oder etwa Cross-Dressing: das Changieren zwischen Geschlechtern, das im englischen Theater um 1600 genauso gängige Praxis war wie heute in den scheinbar hyper-maskulinen Action-Adventure-Spielen. So werden ganz nebenbei sowohl das Shakespeare-Stück interpretiert als auch Kulturanalysen zu Videospielen geliefert. Nicht zuletzt das seit 500 Jahren in der Popkultur stetig durchgekaute "Sein oder nicht sein" wird ohne jeden Pathos als das verstanden, was es eigentlich ist: Eine feinfühlige Introspektion über die Frage, wie viel das eigene Leben noch wert ist, wenn es seinen Sinn verloren zu haben scheint.
"Grand Theft Hamlet", bei Mubi

"Grand Theft Hamlet", Filmstill, 2025
Polaroids des Schreckens
Das Regiedebüt der Schauspielerin Zoë Kravitz heißt "Blink Twice" und ist ein höchst komplexer Psychothriller, der den Gender-Diskurs in eine gewaltige, gewaltvolle Dimension verschiebt. Darsteller Channing Tatum hat sich nach seinen Rollen als Stripper für diesen Film wieder angezogen und spielt den feierwütigen Milliardär Slater King, der die zwei unbeholfenen Mädchen Frida und Jess (Naomi Ackie und Alia Shawkat) auf sein Inselparadies einlädt. Dann beginnt eine Achterbahnfahrt der visuellen Reize, mentaler Überforderung und plot twists.
Zoë Kravitz hat einen wilden und gleichzeitig klaren Film geschaffen, der mit den Grenzen der eigenen psychischen Belastbarkeit sind. Sinnbildlich dafür ist das Medium der Fotografie. Die Frauen werden beim Feiern mit einer Sun 660 Polaroid Kamera in den Händen eines unheimlich wirkenden Channing Tatum abgelichtet, das langgezogene Surren beim Ausdrucken lässt das innere Unbehagen immer größer werden. Wo sind diese Fotos? Wer will sie?
Slater tropft Frida die flüssigen Drogen in den Mund, die weißen Leinenhemden haben Steakflecken, Blutflecken, Giftflecken. Während alle feiern, häufen sich die Anomalien, das Gedächtnis der Frauen scheint nicht mehr zu funktionieren, die Erinnerung ist weg. Schnelle Schnitte lassen den Hedonismus bröckeln. Oft ist es, als würde der Horror in die perfekten Gesichter und Bilder von tropischen Blumen und Schlangen in höchster Sättigungsstufe hineinschneiden. Als Fridas Erinnerung wieder fetzenhaft einsetzt, möchte man ihr wünschen, dass sie die Polaroids, die die Beweise einer schrecklichen Wahrheit bilden, endlich findet oder diese blöde Kamera klaut.
Mit "Blink Twice" ist Kravitz ein wütender Film gelungen, der sexuelle männliche Gewalt in einem ungewohnten Ton präsentiert - und trotzdem mit einer hollywoodreifen Endüberraschung aufwartet.
"Blink Twcie", bei Amazon Prime

Channing Tatum in "Blink Twice", Filmstill