Kuratorin der Documenta 16

9 Erkenntnisse aus der Vorstellung von Naomi Beckwith in Kassel

Die neuen Statuten der Documenta verlangen, dass sich die künstlerische Leitung öffentlich zu ihrem Konzept und der Achtung der Menschenwürde äußert. D16-Kuratorin Naomi Beckwith tat dies nun auf ganz eigene Art. Was sich daraus ableiten lässt

Nach dem Antisemitismus-Skandal bei der Documenta Fifteen hat die künstlerische Leiterin der kommenden Ausgabe, Naomi Beckwith, bei einem öffentlichen Auftritt in Kassel erste Einblicke in ihre kuratorische Arbeit gegeben. Die Veranstaltung gehört zu den Anforderungen des "Code of Conduct", der aus einer Strukturreform bei der Weltkunstschau hervorgegangen ist. Dabei unterstrich die 49-Jährige ihre Achtung für Menschenwürde und für gegenseitigen Respekt. Sie sei offen für Debatten und Diskussionen, "aber ich werde keine physische, verbale oder symbolische Gewalt gegen andere dulden", betonte sie bei einer öffentlichen Veranstaltung vor rund 700 Besuchern. Die nächste Documenta ist im Jahr 2027 geplant.

Beckwith ist stellvertretende Direktorin und Chefkuratorin des New Yorker Guggenheim Museums. Die Documenta zu leiten, sei "eine der aufregendsten Herausforderungen, die ich mir vorstellen kann", erklärte sie nach ihrem Auftritt. Was sich sonst noch aus dem Abend ableiten ließ, haben wir hier zusammengestellt.
 

1. In Kassel war ein klein wenig Documenta-Gefühl zu entdecken 

Schlange stehen vor der Documenta-Halle kennt man eigentlich nur aus den Sommern, in denen die Weltkunstschau die nordhessische Stadt in einen Sehnsuchtsort der Kulturwelt verwandelt. Doch auch die Vorstellung der D16-Kuratorin traf auf überwältigendes Interesse und ließ hunderte Kasselerinnen und Kasseler geduldig in der Märzkälte warten (klimatisch war es dann doch kein Documenta-Feeling). In ihrem Vortrag sagte Naomi Beckwith, dass sie ein wenig Sorge bezüglich der Stimmung an ihrem neuen Wirkungsort hatte. Sie habe erwartet, dass viele Menschen der Ausstellung aufgrund des Antisemitismus-Eklats von 2022 negativ oder skeptisch gegenüberstehen würden. Sie fühle jedoch, dass die Documenta großen Rückhalt in der Bevölkerung genieße und sich die Menschen wirklich um die Institution sorgten. Unterhaltungen mit Kasselerinnen und Kasselern bestätigen dies. Laut Stichproben schauen die meisten nun optimistisch auf die nächste Ausgabe im Sommer 2027 - nachdem sie tatsächlich Angst hatten, dass der Antisemitismus-Skandal das Ende der Documenta hätte sein können.

2. Naomi Beckwith bringt einen neuen Ton in die Debatte

Diese hoffnungsvolle Grundstimmung hat auch damit zu tun, dass die US-Amerikanerin Naomi Beckwith ihre neue Aufgabe in einer offenen, zugewandten Art begonnen hat, die viele begeistert. Sie betont immer wieder die Relevanz der Institution Documenta und begegnet der langen Geschichte der Ausstellung mit Demut, aber auch mit dem Willen, ihre Zukunft zu formen. Im Ton ist das eine große Veränderung zu Ruangrupa (Documenta Fifteen), die gern mit ihrem Unwissen über die Kasseler Kunstgeschichte kokettierten, oder Adam Szymczyks etwas grummeliger Institutionskritik bei der D14. 

3. Wer konkrete Pläne erwartete, wurde enttäuscht

Charmant, aber bestimmt blockte Naomi Beckwith jede zu konkrete Frage nach ihren Plänen für 2027 ab. Auch wenn sie aufgrund des Rücktritts einer ersten Findungskommission und der Neuaufnahme des Verfahrens später berufen wurde als andere Documenta-Leiter, brauche sie nun zunächst Zeit zum Reisen und für Besuche bei Künstlerinnen und Künstlern. Aus ihrem Vortrag, in dem sie ihre persönliche mit ihrer kuratorischen Biografie verknüpfte, lassen sich jedoch einige Hinweise ableiten: Disziplinübergreifende Kunst dürfte genauso wie Musik eine Rolle spielen. Postkoloniale Diskurse und Künstlerinnen und Künstler aus der afrikanischen Diaspora sind zentral für Beckwith' Schaffen als Kuratorin. Die Prägung durch das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft verbindet ihre Geburtsstadt Chicago ("die amerikanischste aller amerikanischen Städte") mit der Documenta-Spielstätte Kassel. Dass sich solche transnationalen Ideen in ihrem kuratorischen Konzept wiederfinden, ist wahrscheinlich. 

4. Naomi Beckwith denkt von der Kunst her

Es klingt banal, aber seit dem Antisemitismus-Eklat bei der Documenta Fifteen wurde mehr über Ideologie als über Kunst gesprochen. Naomi Beckwith hat in ihrem Vortrag klargemacht, dass sie mit Künstlerinnen und Künstlern denkt und ihre Thesen anhand von Werken entwickelt. Wie das genau aussehen wird, ist im Moment noch unklar. Schaut man aber auf die Ausstellungen, die Beckwith mitkuratiert hat - beispielsweise die noch von Okwui Enwezor geplante Schau "Grief and Grievances" im New Museum in New York -, bekommt man den Eindruck, dass dort sowohl sinnliche Opulenz als auch kunsthistorischer Überblick und politische Botschaften im Fokus stehen. In dieser Schau wurden sowohl historische als auch zeitgenössische Werke gezeigt, die den US-amerikanischen Teufelskreis aus Schwarzer Trauer und weißem Groll behandeln, der tiefe gesellschaftliche Wunden reißt - und nun unter Donald Trump noch einmal relevanter erscheint. 

Naomi Beckwith hat erklärt, dass sie mit den Theorien des globalen Südens ausgebildet wurde, aber als Mitglied der Schwarzen Community im globalen Norden, also den USA, sozialisiert ist. Diese Differenzierung ist wohltuend, da sich im Kunstbetrieb gerade gern "Nord- und Südblöcke" ideologisch unversöhnlich gegenüberstehen. Beckwith hob in ihrem Vortrag in Kassel auch Anselm Kiefer als prophetische Position in der deutschen Verdrängungsgesellschaft der Nachkriegszeit hervor. Das deutet darauf hin, dass sie keine Angst davor hat, auch etablierte, vielleicht schon "totkanonisierte" Positionen mit einem frischen Blick zu betrachten.  

5. Die Documenta-Verbindungen sind fast zu perfekt

Sie müsse immer noch beinahe weinen, wenn sie vom Tod des Documenta-11-Leiters Okwui Enwezor (1963 - 2019) spreche, sagte Naomi Beckwith bei ihrer Vorstellung. Sie scheint jedoch auch zu wissen, dass diese Erzählung vom Mentor, dessen Vermächtnis nun durch eine jüngere Kuratorin weitergetragen wird, fast etwas zu perfekt ist. Und so nannte sie im selben Atemzug die ebenfalls 2019 verstorbene nigerianische Kunstermöglicherin Bisi Silva als großen Einfluss. Botschaft: Die "Documenta-Vorväter" sind wichtig, aber nicht die einzigen, die die Kunstgeschichte geprägt haben. 

6. Naomi Beckwith hat die Köder der deutschen Debatte nicht geschluckt

Erinnern wir uns kurz, warum diese Veranstaltung in Kassel eigentlich stattfand. Nach der Verantwortungsdiffusion bei der Documenta Fifteen wurde der Ruf nach mehr politischem Einfluss laut - die Kulturszene fürchtete jedoch um die Kunstfreiheit. Nach einer Strukturreform gibt es nun einen Kompromiss. Die Documenta als Institution hat sich einen (nicht unumstrittenen) Code of Conduct gegeben, der aber nicht für die künstlerische Leitung gilt. Dafür soll sich diese drei Monate nach ihrer Berufung öffentlich äußern. Darin soll sie laut Statuten "ihr kuratorisches Konzept vorstellen, über ihre Haltung zu aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet zeitgenössischer Kunst informieren und darlegen, wie sie die Achtung der Menschenwürde unter Wahrung der grundgesetzlich geschützten Kunstfreiheit auf der von ihr kuratierten Ausstellung gewährleisten will". Im Kunstbetrieb wurde dieser Passus teilweise als Misstrauens-Vorschuss aufgefasst, einige erwarteten in Kassel offenbar eine Art Inquisition.

Naomi Beckwith machte jedoch klar, dass sie diese Veranstaltung nach ihren eigenen Parametern gestalten und den Köder der deutschen "Antisemitismus versus Rassismus"-Debatte nicht schlucken würde. Tatsächlich kam der Begriff Antisemitismus in ihrem Vortrag gar nicht vor. Beckwith ging nur sehr indirekt auf die Zerwürfnisse in der Kunstwelt seit der Documenta Fifteen und dem Krieg in Nahost ein. Vielmehr formulierte sie allgemein, dass sie keinerlei Diskriminierung dulden werde. "Es gibt schon genug Gewalt auf der Welt", sagte sie. Sie habe keine Angst vor Streit und respektiere starke Gefühle von Künstlern und Publikum. Sie setze aber auf einen wertschätzenden Dialog, in dem man verhandeln könne und nicht nur reagiere und sich in gegenseitigen Vorwürfen ergehe. Für die Besucher, die konkrete Maßnahmen erwarteten, war diese recht allgemeine Formulierung unbefriedigend. Auf eine kritische Anmerkung aus dem Publikum, dass in Deutschland die Wahrung der Menschenwürde nicht allen Menschen gleichermaßen zugestanden werde (in dem Fall waren propalästinensische Stimmen gemeint), antwortete sie sehr grundsätzlich: "Dignity is dignity. Universal". An der Ankündigung, auf ihrer Documenta werde es keine Gewalt gegen andere geben, wird sich Beckwith nun messen lassen müssen. 

7. The Kunstbetrieb is back

Teil der Vertrauensoffensive von Naomi Beckwith ist ihre Erfahrung als Vize-Direktorin des New Yorker Guggenheim-Museums, das selbst immer wieder zur Bühne von politischen Auseinandersetzungen wurde: Aktionen gab es beispielsweise von Aktivisten der "Black Lives Matter"-Bewegung, der Initiative P.A.I.N. der Künstlerin Nan Goldin gegen die Pharmafamilie Sackler und auch von Demonstranten aus der propalästinensischen Szene. Beckwith betonte, dass das Haus es geschafft habe, sich Prinzipien zu geben, die Protest ermöglichten, aber gruppenbezogene Anfeindungen unterbinde. In Deutschland tut es sicher gut zu hören, dass die hiesigen Kunstinstitutionen nicht die einzigen sind, die durch offen ausgetragenen Dissenz navigieren müssen und dass es dafür Erfahrungen gibt, aus denen man lernen kann. Andererseits nähert sich die Documenta damit wieder den etablierten Strukturen des Kunstbetriebs an. Vom großen Ruangrupa-Experiment, einen Kulturtanker ganz neu zu denken und umzubauen, ist nicht viel übrig geblieben.

8.  Die Kuratorin wird fast übermenschlich

Nach der Documenta 14 von Adam Szymczyk wurde in den Feuilletons allerorts die Figur des "allmächtigen Kurators" verdammt. Das mit dem Kollektiv bei der Documenta Fifteen ging aber auch schief, und alle riefen wieder nach einer starken Führungs- und Verantwortungsfigur. Dies gipfelt nun in der Wahrnehmung, mit der "richtigen Person" als künstlerische Leitung könnten alle Probleme der Weltkunstschau gelöst werden. In ihren Grußworten vermittelten sowohl der Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann als auch der Kasseler Oberbürgermeister Sven Schoeller und der hessische Kulturminister Timon Gremmels den Eindruck, mit Naomi Beckwith als Kuratorin könne die Documenta 16 ja nur gelingen und großartig werden - was zu diesem Zeitpunkt keineswegs gesagt ist. Auch, ob dieses vorauseilende Urteil aus der Politik kommen sollte, kann man diskutieren. Natürlich ist Naomi Beckwith eine kluge, kompetente Wahl - und sie macht nicht den Eindruck, dass sie Debatten scheut. Aber wenn sie sinngemäß sagt, dass allein ihre Haltung und achtsames Kuratieren erneute Skandale verhindern können, kreiert sie eine enorme Fallhöhe - und alle Verantwortung sammelt sich wieder in der Person der Kuratorin.

9. Die Zukunft der Documenta entscheidet sich auch in Berlin

Der hessische Kulturminister Timon Gremmels (SPD) war nur per Video in Kassel zugeschaltet - aus gutem Grund, wie er sagte. Denn er ist Teil der Arbeitsgruppe Kultur bei den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD in Berlin. Wer das Amt des Kulturstaatsministers bekleidet (derzeit werden vor allem der wegen seiner Sparpolitik stark kritisierte Berliner Kultursenator Joe Chialo und sein Hamburger Kollege Carsten Brosda gehandelt), hat auch Einfluss auf die Documenta. Nach dem Antisemitismus-Eklat bei der Documenta Fifteen ist der Bund beispielsweise in den Aufsichtsrat zurückgekehrt. Die Zukunft und der Grad der politischen Unterstützung der Weltkunstschau entscheidet sich also nicht nur in Kassel, sondern auch in Berlin.