Kunst-Tipps

9 Dinge, die Sie jetzt in Berlin sehen sollten

"Sigmar Polke. Der heimische Waldboden. Höhere Wesenbefahlen: Polke zeigen!", Installationsansicht Schinkel Pavillon, Berlin, 2024
Foto: Frank Sperling / VG Bild-Kunst, Bonn, 2024

"Sigmar Polke. Der heimische Waldboden. Höhere Wesenbefahlen: Polke zeigen!", Installationsansicht Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

Die Berlin Art Week ist dazu da, dass Menschen ständig das Gefühl haben, das Beste zu verpassen. Hier sind neun Ausstellungen, die man unbedingt anschauen sollte

Christoph Schlingensief bei Crone

Was machen wir mit den Neonazis, die aus jeder Ecke kommen? Was machen wir mit denen, die wütend sind, die nicht erreichbar scheinen von rationalen Argumenten? Der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief hatte vor zwei Jahrzehnten darauf radikale Antworten. Am Zürcher Schauspielhaus holte er 2001 Neonazis auf die Bühne und spielte mit ihnen Hamlet. Und auf einer "Deutschlandsuche" durch die  Fußgängerzonen Deutschlands setzte er sich den Affekten der Passanten aus, hörte selbst geifernden Rassisten zu und hielt dagegen. "Deutschlandsuche" heißt auch die von Anna Katharina Gebbers in enger Zusammenarbeit mit Aino Laberenz kuratierte Ausstellung bei der Galerie Crone, in der diese und andere Aktionen des 2010 verstorbenen Schlingensief mit Videos, Zeitungsausschnitten und Dokumenten vergegenwärtigt werden – auch bislang unveröffentlichtes Material ist dabei. 

Wir sehen noch einmal, wie da einer unerschrocken dahin ging, wo es weh tut – mutig, schlagfertig und gleichzeitig atemberaubend verletzlich. In was für einem Land leben wir eigentlich? Wie lange stecken wir noch die Köpfe in den Sand? Es ist die richtige Ausstellung zur richtigen Zeit.  

"Christoph Schlingensief: Deutschlandsuche", Galerie Crone, bis 19. Oktober

Christoph Schlingensief "Deutschlandsuche, Namibia", 2004
Foto: Aino Laberenz, Courtesy Galerie Crone, Berlin, Wien und Nachlass Christoph Schlingensief, Berlin

"Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien", Filmstill, 2020


Tracey Snelling im Haus am Lützowplatz

Man kann die bunten und detailverliebten Architekturmodelle von Tracey Snelling mit einer kindlichen Freude betrachten. An den Fassaden lassen sich Graffiti-Schriftzüge und Balkondekoration erkennen, hinter den Fenstern laufen kleine Handyvideos und Ausschnitte aus Filmklassikern ab, sodass man einen Miniaturblick in fremde Leben werfen kann. Doch hat man die Begeisterung über die Machart der blinkenden und aufwendig verkabelten Puppenhäuschen einmal verarbeitet, lässt sich auch eine dunklere Ebene der Installationen erkennen. 

Die US-Künstlerin Snelling, die schon lange in Berlin lebt, baut überwiegend existierende Gebäude nach, die einmal für eine Art von Utopie standen, darunter soziale Bauprojekte, Ausgehviertel und modernistische Wohnmaschinen. Viele davon haben sich heute in Orte verwandelt, die als vermeintliche "Brennpunkte" gelten und dem architektonischen und gesellschaftlichen Verfall preisgegeben werden. Trotzdem behalten die Modelle eine Verführungskraft und erscheinen als Lebens- und Ausdrucksraum für die verschiedensten Menschen. Berlin-Kenner können in der Ausstellung zur Art Week das geschrumpfte brutalistische Tierlabor "Mäusebunker", einen Wohnblock am Kottbusser Tor und den Kit-Kat-Club inklusive Partybeleuchtung entdecken. 

"Tracey Snelling: How We Live", Haus am Lützowplatz, bis 9. Februar 2025 

Tracey Snelling "Shanghai Chongqing - Hot-PotMixtape", 2019
Foto: Courtesy Tracey Snelling und Studio la Città

Tracey Snelling "Shanghai Chongqing - Hot-Pot-Mixtape", 2019


Conny Maier bei Societé

Rau und kraftvoll sind die neuen Bilder von Conny Maier bei der Galerie Sociéte, man kann kaum wegschauen von diesen Kompositionen. Wir befinden uns tief in irgendwelchen Dschungeln, an Flüssen, im Wasser. Die weiblichen Wesen haben vier Brüste, wie Zitzen, manchmal sprudelt die Flüssigkeit aus den Brustwarzen. Es gibt – eine Neuigkeit bei Maier – auch männliche Körper. Werden sie beatmet, oder klauen die Evas dem Adam gerade eine Rippe aus dem Leib? Gesichter sehen wir kaum, die Köpfe sind klein, es regiert das Fleisch, die nackte Existenz. Was man für Naturidyllen halten könnte, sind in Wirklichkeit postapokalyptische Szenen: ertrinken, vergehen, sich behaupten, wiedergeboren werden nach der Katastrophe. Eine intensive Schau. 

"Conny Maier: Drowning", Societé, bis 2. November


Rirkrit Tiravanija im Gropius Bau

Kunstgucken? Nee, lieber erstmal eine Runde Tischtennis spielen. Und dabei vielleicht über die Zukunft plaudern oder einfach darüber, wie es gerade so geht. Danach vielleicht ein bisschen Musik machen, Keyboard, Drums, Gitarre, Bass stehen bereit. Zur Stärkung gibt es eine Flädlesuppe mit einer ordentlichen Portion Cayennepfeffer, gegessen wird in großer Runde – "Hallo, wer bist du denn, schön dass wir uns kennenlernen." 

Danach einen türkischen Mokka, und nebenbei kann man sich einen Ausschnitt aus dem Fassbinder-Film "Angst Essen Seele Auf" anschauen und über Rassismus und german angst damals und heute nachdenken. Wie eine Museums-Direktorin so arbeitet oder auch nicht, zeigt ein Raum mit Besprechungstisch, Sitzecke und Schreibtisch, dahinter ein Bild mit dem Situationisten-Slogan "Ne travaillez jamais". Statt zu arbeiten, kann man sich wissenschaftliche Vorträge, Gedicht-Lesungen oder Konzerte anhören; an einem Origami-Workshop oder einer Cooking-Battle teilnehmen. Rirkrit Tiravanija verwandelt den Gropius Bau in ein großes Happening, das durch Kopf und Magen geht.

Rirkrit Tiravanija "Das Glück ist nicht immer lustig", Gropius Bau, Berlin, bis 12. Januar 2025


Albert Oehlen bei Max Hetzler

Am Dienstag wird er 70. Und wir dürfen auch feiern – und zwar vor allem Albert Oehlens ungebrochen kraftvolle Malerei. Während parallel an der Hamburger Kunsthalle seine "Computerbilder" gezeigt werden, wartet Max Hetzler an der Potsdamer Straße mit "Schweinekubismus" aus Oehlens Werkstatt auf. 

Auf zwei Stockwerken sind Formate verschiedener Werkserien zu sehen, die eine neue Begegnung mit dem Meister der prozesshaften Malerei (aber auch der Skulptur) erlauben. Oehlen wird in seiner integrierten "Ömega Man"-Serie zunehmend selbstreferenziell: lauter Zitate lassen die Bilder zu einer Art Oehlen-Kompendium werden. Das ist bei dem gigantischen Formenrepertoire, das der große Krefelder in sechs Jahrzehnten entwickelt hat, eine aufregend gute Nachricht.

Albert Oehlen "Schweinekubismus", Max Hetzler, Berlin, 14. September bis 2. November. Eröffnung: Samstag, 14. September, 18 bis 20 Uhr


Pasolini im N.B.K.

Oft beginnen Ausstellungen mit einer wandfüllenden Biografie des Künstlers oder der Künstlerin. In der Pasolini-Schau im neuen Berliner Kunstverein steht man stattdessen vor dem wohl umfangreichsten Anklageregister, dem sich ein Künstler je ausgesetzt sah: Dutzende, vielleicht hunderte Anklagen wurden gegen den Regisseur, Dichter und Denker erhoben – ein italienischer Wissenschaftler hat die Tage, die Pasolini in Gerichtssälen verbrachte, einmal zusammengezählt und kam auf über zwei Jahre. 

Schon sein 1955 erschienener Debutroman "Ragazzi di vita" über einen Straßenjungen, der seine Existenz mit Diebstählen und Prostitution bestreitet, wurde von der mailändischen Justiz als pornografisches Material angezeigt. Der fiktive Kreuzigungsfilm "La ricotta" brachte Pasolini eine Anklage wegen Blasphemie ein. In der Ausstellung ist die Szene zu sehen, die besonders Anstoß erregte: Jesus fällt bei der Kreuzabnahme zu Boden und bricht daraufhin mit Maria Magdalena und den Engeln in schallendes Gelächter aus. Für die Richter reichte die harmlose Szene aus, um eine viermonatige Bewährungsstrafe wegen Verunglimpfung der Religion zu verhängen. 

Was Pasolinis eigentliche Intention war, zeigt die Reproduktion eines Pontormo-Gemäldes aus dem 16. Jahrhundert, das er im Film nachstellte. Mit Künstler und dem einfachen Volk könne er, erklärt Pasolini in einem Interviewausschnitt, nicht aber mit der Bourgeoisie – knapp ausgedrückt bestehe der Kern seines Werks im "Hass auf den kapitalistischen, kleinbürgerlichen Staat."

Seine Auflehnung gegen Konventionen, seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und seine offen gelebte Homosexualität provozierte dabei nicht nur die Justiz, sondern auch Politik und Medien, Kirche und Neofaschisten. 1975 wurde er unter nie ganz geklärten Umständen ermordet. In zahlreichen ausgestellten Magazinen und Zeitungsseiten ist zu sehen, wie PPP zeitlebens mit Häme und Homophobie überzogen wurden – und trotzdem nie nachgab. So hässlich die Kommentare, so schön und stolz tritt dieser Mann auf; so systematisch die Diskriminierung, so bedingungslos plädiert sein Leben wie seine Kunst für radikale Diversität. Parallel zu der mit zahlreichen Originalmaterialien, darunter Fotografien, Filme, Zeitungen, Bücher und Filmkostüme, bestückten Ausstellung gibt es im Babylon-Kino eine Reihe mit Pasolini-Werken.

Pier Paolo Pasolini, N.B.K., bis 10. November


Sigmar Polke im Schinkel Pavillon

Nein, eine Retrospektive soll es nicht sein, erklärt Bice Curiger. Doch was die Kuratorin im Schinkel-Pavillon an Werken des deutschen Künstlers Sigmar Polke zusammengetragen hat, ist doch von beachtlichem Umfang und hoher Qualität. Zumal man Polkes Werk in Berlin überhaupt viel zu selten zu besehen bekommt. 

"Der heimische Waldboden. Höhere Wesen befahlen: Polke zeigen!" versammelt Malerei, Fotografie sowie Filme und Grafiken aus den 1960er- bis in die 2000er-Jahre. Die Vielschichtigkeit und Experimentierfreude des Künstlers tritt dabei genauso hervor wie sein Witz: die ironischen Seitenhiebe auf Kritiker, Kollegen und die eigene Rolle. Ein Selbstporträt zeigt den Künstler mit Malerfürst-Insignien, offenem Bademantel, Zigarre im Mund. Unten rechts ist ein Loch in der Leinwand, durch das Polke und ein Sammler per Handschlag einen Deal besiegelt haben sollen. 

Ein anderes Mal wischt er dem US-Kritiker und Abstraktionsapostel Clement Greenberg eins aus, rahmt ein Gemälde mit dem Holz einer Schultafel und lässt unten die Leinwand raushängen wie ein Hemd aus der Hose. Pathos war Polkes Sache nicht, lieber hielt er sich am Gewöhnlichen und auch mal Schäbigen, an der Absurdität des Alltags auf. Das untermauern auch die wie Kontrapunkte klug zwischen die Malerei gehängten Fotoserien. Die Pointe dabei: Auch der Witz hat bei Polke keine Autonomie - er ist Grundlage einer Lebensphilosophie. 

"Der heimische Waldboden. Höhere Wesen befahlen: Polke zeigen!", Schinkel Pavillon, Berlin, bis 2. Februar 2025


Mariechen Danz in der Berlinischen Galerie

Jeder weiß, dass die Haut das größte Organ des Körpers ist. Vor allem aber ist sie sichtbar, und deshalb gibt es für die Haut eine Menge Produkte und Ideen zu ihrem Erhalt. Wissen wir aber, wie es um unsere anderen Organe steht, was sie brauchen, wie sie altern, ob sie etwas Hilfe benötigen könnten?

Mariechen Danz ist Bildhauerin, Performerin, Sängerin. Sie misst sich selbst keine übermäßigen schulmedizinischen Kompetenzen zu, aber sie weiß eine Menge. Vor allem über das medizinische Wissen selbst. Wie kommt es zustande, und welches andere Wissen wurde dadurch verdrängt?

Als Mariechen Danz, geboren 1980 in Irland, mit ihren Performances zum "Unlearning" anfing, waren ihre Fragen noch nicht so weit verbreitet wie heute. Dass sie jetzt den Gasag-Kunstpreis bekommt, ist mehr als verdient: Er zeichnet junge Künstlerinnen und Künstler aus, deren Werk Berührungspunkte mit der Wissenschaft haben, und jetzt ist der richtige Moment. Denn selbst Krankenkassen unterstützen inzwischen "ganzheitliche Ansätze". In der Kunst ist das überhaupt kein Novum. In der Berlinischen Galerie sind ältere und neue Arbeiten von Mariechen Danz zu sehen, und im Grunde zeigt sich ein in fast zwei Jahrzehnten entwickeltes, stringentes bildhauerisches und performatives Werk ohne Brüche. 

Zur Eröffnung ihrer Ausstellung sang die Künstlerin, die auch immer wieder Platten herausbringt. Wenn ihr dunkles Timbre erklingt, dann dringt dieser Klang bis nach innen vor. Jeder Körper ist auch ein Resonanzkörper. Jedes Organ kann in Schwingung versetzt werden, nicht nur Haut oder Herz.

Mariechen Danz "Edge out", Berlinische Galerie, Berlin, bis 31. März 2025

"Mariechen Danz: Edge out", Installationsansicht Berlinische Galerie, 2024
Foto: Benjamin Pritzkuleit 

"Mariechen Danz: Edge out", Installationsansicht Berlinische Galerie, 2024


Cosima zu Knyphausen in der Galerie Thomas Schulte

Die Galerie Thomas Schulte hat einen zweiten Standort: Zusätzlich zu den Räumen in der Charlottenstraße eröffnet zur Art Week eine neue Dependance in den Mercator-Höfen in der Potsdamer Straße, also dort wo mit Max Hetzler und Esther Schipper weitere Top-Galerien Kunst zeigen. Nur wenige Häuser entfernt von der ersten Malschule, die Künstlerinnen in Deutschland ausbildete, bevor sie an Kunstakademien studieren durften, zeigt die chilenische Künstlerin Cosima zu Knyphausen bei Schulte ihre Ausstellung "Maestra": Es geht in den oft kleinformatigen, kachelförmigen Malereien und Zeichnungen um die historische Darstellung von Frauen, als Porträtierte und als Künstlerinnen, als Begehrte und Begehrende. Die 1988 geborene Malerin bringt in ihren Bildern Referenzen zu Alten Meisterinnen wie Artemisia Gentileschi genauso wie zur russischen Pop-Band T.a.t.u unter, Verweise auf Orte des queeren Berlins, immer wieder taucht eine autoritäre Kunstprofessorin auf, sogar ein Brief von ihr, indem sie ihrer Schülerin Cosima Faulheit unterstellt. Knyphausen malt mit leichtem Farbauftrag, die Stofflichkeit der Leinwand bleibt sichtbar, manchmal zieht die Künstlerin Raster über die Leinwand, wie zur Vermessung des eigenen Mediums. Ihre Figuren wirken mal befreit wie Matisse-Tänzerinnen, mal verzweifelt vor der Leinwand. Die Maestra-Werdung ist ein langer Weg, und zu betrachten, wie Cosima zu Knyphausen sich mit ihrem eigenen Können auseinandersetzt, ist ein Genuss.

Cosima zu Knyphausen "Maestra", Galerie Thomas Schulte (Standort Potsdamer Straße), 14. September bis 2. November

Cosima zu Knyphausen "Ibídem", 2023
Foto: Nick Ash. Courtesy the artist and Galerie Thomas Schulte

Cosima zu Knyphausen "Ibídem", 2023