Stifte raus, Kunstunterricht!
War Jonathan Meese, heute omnipräsenter Provokateur der deutschen Kulturszene, eigentlich gut in Kunst? Der heute 54-Jährige erinnert sich, dass er im Unterricht am Gymnasium eher schüchtern und ein Spätentwickler war. Erst mit Anfang 20 begann er, sich wirklich fürs Malen zu interessieren und studierte später an der HfbK Hamburg. Was guter Kunstunterricht eigentlich ist und wie erfolgreiche Kreative heute auf ihre Schulzeit zurückblicken, will ein neuer Dokumentarfilm bei 3 Sat in Erfahrung bringen.
"Kunst macht Schule - Die kreative Kraft der Schulzeit" begleitet Jugendliche bei musikalischen und künstlerischen Projekten, befragt sie zu ihrem Verhältnis zum Machen und spricht mit Künstlern, die auch unterrichten. Für Jonathan Meese geht es in der Lehre vor allem darum, mutig zu sein und darin bestärkt zu werden, auch Fehler machen zu dürfen. Für viele Kinder ist die Schule der einzige Ort, an dem sie mit Musik, Kunst und Kultur in Berührung kommen. Guter Unterricht in diesem Feld - das zeigt auch dieser liebevoll gemachte Film - ist eine Investition für die ganze Gesellschaft.
"Kunst macht Schule - Die kreative Kraft der Schulzeit", 3-Sat-Mediathek, bis Oktober 2027
Eine Prozession für das alte Leben
Bei den Filmfestspielen in Venedig haben der Street-Art-Künstler JR und die Regisseurin Alice Rohrwacher im September ihr gemeinsames Werk "An Urban Allegory" vorgestellt, das Platons Höhlengleichnis in die Gegenwart überführt. Es ist nicht die erste Kooperation der beiden, denn die sie arbeiteten bereits 2020 gemeinsam an dem Kurzfilm "Omelia Contadina", der inzwischen auch auf Vimeo zu sehen ist.
In den mit elegischer Musik unterlegten Bildern geht es um das Aussterben von traditioneller Landwirtschaft auf dem italienischen Alfina Plateau. Ähnlich einer religiösen Prozession tragen Bewohnerinnen und Bewohner von JR gestaltete Riesenbilder über karge Felder. Sie stehen für die Menschen, deren Existenz von der Bewirtschaftung des Bodens abhängt. Zum Schluss wird eine der Figuren in der bestellten Erde begraben. Die Kamera blickt dabei aus der göttlichen Draufsicht auf die Szenerie. Nicht gerade subtil, aber stimmungsvoll. Sogar, wenn man kein Italienisch versteht.
JR und Alice Rohrwacher "Omelia Contadina", auf Vimeo
Birgit Minnichmayr als Maria Lassnig
Anja Salomonowitz’ Biopic über die österreichische Künstlerin Maria Lassnig ist ein einfallsreicher Film, der raffiniert zwischen Spiel- und Dokumentarformat pendelt. Birgit Minichmayr verkörpert die junge wie die alternde Lassnig – und verzichtet auf Make-up und Method Acting.
Manchmal scheint Minichmayr neben ihrer Figur zu stehen und sich über die Malerin zu wundern: Hohe Schauspielkunst in einem Film, der die allzu große Nähe zur Hauptperson und jede hollywoodeske Immersion vermeidet. Es gibt viele Gelegenheiten, Lassnig zu beobachten, etwa, wie sie sich durch ihr Atelier bewegt, um ein neues Werk zu schaffen. Oder wenn sie eine Galerie betritt und sich erst mal heftig und laut beschwert: "Nein, nein, nein", es sei alles "ganz falsch" gehängt und ausgeleuchtet im Ausstellungsraum.
In einer schönen Szene steht die Künstlerin spätabends nach einer Ausstellung mit einer Überzahl bemalter Keilrahmen auf der Straße. Arnulf Rainer und die anderen Kollegen haben sich längst aus dem Staub gemacht, aus dem jetzt eine Gruppe Ameisen krabbelt, die Lassnig beim Bildtransport hilft. Computeranimierte Tiere, versteht sich. Und der Filmtitel "Mit einem Tiger schlafen" ist auch nicht wörtlich zu nehmen.
"Mit einem Tiger schlafen", bei Amazon Prime
Ein Fiebertraum mit Christoph Schlingensief
Alle vermissen Christoph Schlingensief. Das wurde gerade wieder bei dessen Ausstellung in der Galerie Crone zur Berlin Art Week deutlich, die begeistert besprochen wurde. Wem das noch nicht gereicht hat, kann dem 2010 verstorbenen Regisseur und kompromisslosen Aktionskünstler auch durch einen Porträtfilm begegnen, der gerade bei Mubi zu sehen ist.
Selten bekommt man eine biografische Dokumentations-Annäherung als Materialschlacht geboten. Im Fall von "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" ist das ein Glücksfall. Ein gut zwei Stunden langer Fluss aus Super-8-Familienfilmen, Talkshow-Auftritten, Theateraufführungen und Interviews sorgt dafür, dass der Meister der "Überlebenskunst" einem so nahe kommt wie noch nie.
Auf den ersten Blick passen die temperierten Filme der Berliner Schule nicht gerade mit dem fiebrigen Multimedia-Universum Schlingensiefs zusammen. Film-Editorin Bettina Böhler fühlt sich trotzdem auf beiden Terrains zu Hause. Sie hat reihenweise Filme für Christian Petzold und Co. geschnitten, aber auch bereits in den 1990ern zwei Filme von Schlingensief montiert. Gleich mehrere rote Fäden halten das überbordende Archivmaterial ihres Regie-Debüts zusammen: Die Auseinandersetzung ihres Protagonisten mit Deutschland, das prekäre Verhältnis zu seinen Eltern und die wiederkehrenden Beteuerungen, er wolle gar nicht provozieren.
Angesichts der von der Polizei vereitelten Aufrufen zum Mord an Helmut Kohl auf der Documenta, albernsten Hitler-Parodien und Quiz-Moderationen, die um die korrekte Reihenfolge der Konzentrationslager von Nord nach Süd kreisen, möchte man diese kokettierende Abwehr zwar bezweifeln. Aber als Schlingensief kurz vor seinem Krebstod über sein melancholisches Wesen, Depressionen und die lähmende Atmosphäre seines Elternhauses spricht, kommt man nicht umhin, seinen alles zerschlagenden Aktionismus tatsächlich für ein überlebenswichtiges Ventil zu halten.
"Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien", auf Mubi
Camille Claudel und die Suche nach Freiheit
Die Bildhauerei war für sie existenziell: Der Dokumentarfilm "Camille Claudel, eine Jahrhundertkünstlerin", der gerade bei Arte zu sehen ist, erzählt die Geschichte einer Frau, die darum kämpfte, eigenständig Kunst erschaffen zu können. Einen großen Einfluss auf sie hatte immer die Natur. Schon als Kind war Camille, geboren 1864, besonders vom Meer und den mächtigen Kreidefelsen in Frankreich beeindruckt. Diese groben, gewaltigen Felsstrukturen glaubt man auch in ihren Skulpturen wiederzuerkennen, die menschliche Körper in Bewegung darstellen. Die Einkerbungen und Risse zeugen heute von ihrem besonderen Stil und sind gewissermaßen Sinnbilder ihrer emotionalen Tiefe. In Nahaufnahmen sind ihre Werke zu sehen, die auch Ausdruck ihrer Gefühle und Gedanken waren.
Camille Claudel hatte den Traum, als Bildhauerin unabhängig anerkannt zu werden. Doch wie der Film nahelegt, wurde sie von dem Gefühl geplagt, ihre Kunst sei bedeutungslos. Später wies sie sich selbst in eine Psychiatrie ein, in der sie die letzten Jahre vor ihrem Tod 1943 verbrachte. Sie nahm weiterhin kleinere Auftragsarbeiten an, der große erhoffte Erfolg blieb aber aus.
Ihre Beziehungen zu dem berühmten Bildhauer Auguste Rodin und den Weggefährtinnen, mit denen sie zwischenzeitlich zusammen im Atelier arbeitete, werden anhand historischer Fotos, Briefe und der Kunstwerke selbst erzählt. Sie und ihre Freundinnen waren die ersten Frauen, die bei Rodin Bildhauerei studierten. Auch Tonaufnahmen helfen dabei, einen Einblick in ihre Gefühlswelt zu bekommen und machen die Aufarbeitung des künstlerischen Nachlasses lebendig.
Rodin, der einst zu ihrem Liebhaber wurde und sich dann doch von ihr abwandte, schätzte sie für ihren freien Geist und ihre Unangepasstheit. Nur ein einziges überliefertes Foto bildet die beiden zusammen ab. Die Möglichkeiten zerplatzten jedoch für sie, als das schwierige Verhältnis zu ihrem ehemaligen Lehrer endete. Damit steht ihr individuelles Schicksal auch stellvertretend für viele kreative Frauen dieser Zeit, die vom Wohlwollen mächtigerer Männer abhängig waren.
"Camille Claudel, eine Jahrhundertkünstlerin", Arte-Mediathek, bis 5. November
Die DDR abbilden
Der Titel ist ein wenig irreführend: "Fotoshooting DDR – Bilder zwischen Propaganda und Alltag" lässt vermuten, dass die im Arte-Dokumentarfilm vorgestellten Fotografinnen und Fotografen ihr Handwerk in den Dienst der Staatsmacht gestellt hätten. Davon kann aber bei Dietmar Riemann, Christiane Eisler, Barbara Wolff und Eberhard Klöppel nicht die Rede sein. Allesamt Absolventinnen und Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig – der einzigen Kunsthochschule der DDR, die den Studiengang Fotografie anbot -, loteten die Vier das kritische Potenzial ihres Mediums aus.
Obschon sie teilweise in staatlichen Institutionen oder innerhalb der offiziellen Presselandschaft tätig waren, sind ihre Bildwelten weit entfernt von den staatlich geforderten idealistischen Inszenierungen der sozialistischen Gesellschaft. Das wiederum macht der Film recht deutlich. Er gewährt Einblicke in die Werke der Protagonisten, die unterschiedliche Facetten der DDR wiedergeben: Barbara Wolff porträtierte Orte und Menschen der ostdeutschen Provinz; ihre Aufnahmen, in denen Menschen mit lokalen Grenzsituationen konfrontiert sind, drücken eine Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung aus.
Christiane Eisler dokumentierte hingegen die Anfänge der Punkbewegung in der DDR der 1980er-Jahre und kassierte hierfür Ausstellungsverbote. Eberhard Klöppels Fotografien offenbaren die Auswirkungen - aber auch die jahrhundertealten Traditionen - des Kupferbergbaus im Südharz. Und Dietmar Riemann fotografierte heimlich die Mauer und widmete sich immer wieder Themen, die jenseits der staatlich gewollten Sichtbarkeit lagen: Menschen mit Behinderung, trostlose Hinterhöfe als blinde Flecken der sozialistischen Stadtentwicklung und Schaufenster, die den desolaten Zustand des Landes symbolisierten.
Auch wenn das Bild im Vergleich zum gesprochenen und geschriebenen Wort mehr Möglichkeiten der Kritik bereithielt (eine offizielle Zensurinstanz für Fotografie gab es nicht) hatten die Protagonistinnen und Protagonisten auch mit Einschränkungen ihrer Tätigkeit, Anwerbeversuchen durch die Stasi und Ablehnung von Studienreisen ins "kapitalistische Ausland" zu kämpfen. Das Ringen der Kunstschaffenden um Selbstbestimmung ist ein roter Faden des Films.
"Fotoshooting DDR – Bilder zwischen Propaganda und Alltag", Arte-Mediathek, bis 2028
William Kentridge als Kaffeekanne
Als er drei Jahre alt war, wollte er ein Elefant werden – mit dieser Erinnerung beginnt William Kentridges Filmserie und setzt den Ton für eine wunderbare Reise in die Gedanken- und Schaffenswelt des südafrikanischen Künstlers. Die neun Episoden von "Self-Portrait as a coffee-pot" spielen ausschließlich im Atelier des Künstlers in Johannesburg, als Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Welt, Input und Output. Wir sehen Kentridge beim Zeitungslesen und Kaffeetrinken und Abschreiten der Räume, mit der slapstickhaften Unruhe eines Charlie Chaplin. Hören seine Selbstgespräche und philosophischen Betrachtungen über die Welt im Großen und Ganzen oder auch nur über die formalen Qualitäten der titelgebenden Kaffeekanne.
An der Staffelei, auf dem weißen Stück Papier nehmen dann Gedanken Gestalt an. Zeichnungen und Bildern entstehen, die mittels Trickfilmtechnik immer wieder zerfließen, sich zu Animationen wandeln und von der Leinwand laufen. So leicht lässt sich die Realität von der Kunst nicht einfangen. Aber das macht nichts. Die Losung lautet: wieder scheitern, besser scheitern.
Über Jahrzehnte hinweg hat Kentridge mit seinen Zeichnungen, Animationsfilmen, Skulpturen, Tapisserien und groß angelegten Installationen sein Aufwachsen im Apartheidsregime und die Folgen des Kolonialismus verarbeitet. Seine neue Serie entstand während der Corona-Pandemie, als Reisen und Ausstellungsmöglichkeiten stark eingeschränkt waren. Sie versprüht die unbedingte Zuversicht, dass man mit der Kunst der Enge der Welt immer wieder entfliehen kann.
"William Kentridge: Self-Portrait As A Coffee Pot”, auf Mubi
Der Künstler, der aus den Bergen kam
Ein kleiner Junge will Wunder erschaffen. Schon während seiner Kindheit im Schweizer Kanton Graubünden träumt sich Not Vital weit weg. Er entwirft eigene Traumwelten und geheimnisvolle Objekte, und genau genommen tut das der 76-Jährige immer noch - nur, dass es das Ganze heute Kunst nennt und mit seinen sakral anmutenden Skulpturen und Installationen ziemlich bekannt geworden ist.
Der Essay-Film "Not Me - Eine Reise zu Not Vital" von Pascal Hofmann begleitet den rastlosen Maler und Bildhauer bei seinen Reisen und findet sich unter anderem in New York, Peking, Patagonien und Niger wieder. Der Regisseur will jedoch kein stiller Beobachter einer Künstlerkarriere sein, sondern auch filmisch die Entstehung von Ideen festhalten. So gibt es immer wieder opulente Bilder aus Not Vitals Kindheit in den Bergen des Örtchens Sent, in denen das Magische Einzug auf den Bildschirm hält. Aus Büchern glitzern Galaxien, märchenhafte Gestalten aus der Wüste sprechen zu dem in Ehrfurcht erstarrten Jungen.
Mit diesem Ansatz läuft der Film Gefahr, die bei weitem nicht immer glamouröse Arbeit eines Künstlers zu verklären. Auch die Frage, wann Faszination für "fremde Kulturen" in Aneignung kippt, bleibt unbeantwortet. Trotzdem ist Pascal Hofmann ein dichter Film über Kreativität gelungen. Und über einen Mann, der den Kontakt zu seinem inneren Kind nie verloren hat.
"Not Me - Eine Reise zu Not Vital", Vimeo, zum Ausleihen und Kaufen