Streaming-Tipps

7 Kunst-Filme und Serien, die man jetzt sehen sollte

Unsere Film-Tipps fürs lange Wochenende wollen viel: den radikalen Ausbruch, ein verändertes Gesicht, die Kunst des Schweigens und eine Form für die Erinnerungen


Phyllida Barlow: Wie Skulpturen geboren werden

Die Skulpturen und Installationen der britischen Künstlerin Phyllida Barlow sind alles andere als bescheiden. Sie bläst Alltagsobjekte zu riesigen grotesken Monumenten auf und lässt sich auf kindliches Staunen und unendeutige verspielte Formen ein. Die Dokumentation "Phyllida" von Regisseurin Cosima Spender ist dagegen ein sehr leises, introvertives Porträt der Künstlerin, die 2017 den britischen Pavillon auf der Venedig-Biennale bespielt hat. Darin erzählt die 76-Jährige, wie sie ihre Inspiration in den Formen aus ihrer Erinnerung findet: dem zerbombten Londoner East End, dem Schrank unter der Treppe ihrer Großmutter, den Dingen, die sie als Kind gesammelt hat. Der Film zeigt, wie aus den Assoziationen und Ideen Kunstwerke und die Ausstellung "Cul de Sac" in der Londoner Royal Academy entstehen.

"Phyllida", Royal Academy: Digital Premiere



Der stumme Künstler im Kampf mit der Gegenwart

Der Umbruch vom Stumm- zum Tonfilm hat ab 1927 viele Hollywoodstars die Karriere gekostet. In seiner Tragikomödie "The Artist" von 2011 erinnert der französische Regisseur Michel Hazanavicius an Krise und Aufbruch in Hollywood Ende der 20er-Jahre. Weitgehend an Originalschauplätzen, wie den Paramount Studios, gedreht, verzichtet der Film weitgehend auf gesprochene Dialoge. Im Zentrum steht der Stummfilmschauspieler George Valentin (Jean Dujardin), ein sinkender Stern am Hollywood-Firmament. Gleichzeitig wird nach dem Muster von "A Star is born" vom kometenhaften Aufstieg der charismatischen Peppy Miller (Bérénice Bejo) erzählt, die versucht, George aus Erstarrung und Trunksucht zu befreien.

Der Film nimmt seine Perspektive ein, sträubt sich mit dem Protagonisten gegen die Tonfilmästhetik. Mit süffiger Musik (Ludovic Bource), exaltiertem Spiel und Zwischentiteln wird die Stummfilm-Ära beschworen, das goldene Hollywood, an das sich der Held klammert. Eine Sequenz, in der George von Toneffekten terrorisiert wird, zählt zu den absurd-komischen Höhepunkten der nostalgisch-gefühlvollen Hommage an eine versunkene Epoche.

"The Artist" 3 Sat Mediathek, bis 11. April


Der Mann hinter "Casablanca"

Über 160 Filme hat der Hollywood-Regisseur Michael Curtiz (1886-1962) in 50 Karriere-Jahren gedreht, darunter ist "Casablanca" der berühmteste. Das Melodram um den Barbesitzer Rick, der seine große Liebe Ilsa in Marokko wiedertrifft, die mit einem Widerstandskämpfer gegen die Nazis auf der Flucht ist, entstand unter eher chaotischen Umständen, die man dem Kultfilm nicht anmerkt.

Tamás Yvan Topolánszkys nun von Netflix präsentierter Spielfilm "Curtiz" spielt während des Drehs zu "Casablanca" in den Warner-Brothers-Studios. Während die Stars Ingrid Bergman und Humphrey Bogart zu Statisten degradiert werden, tritt Michael Curtiz ins Scheinwerferlicht. Eindrucksvoll verkörpert Ferenc Lengyel die Titelfigur als besessenen Filmemacher, dessen gebrochenes Englisch – Curtiz wurde in Budapest geboren und kam in den 20ern nach Hollywood – im Studio für manche Verwirrung sorgt.

Topolánszky zeigt beide Gesichter des Regisseurs: den Despoten, der Schauspieler zu Höchstleistungen treibt, und den in lauter Liebesaffären verwickelten Privatmann, dessen Ehefrau sich mit seiner Untreue abfinden muss. Die weibliche Hauptfigur in "Curtiz" ist aber Kitty (Evelin Dobos), die vergessene Tochter des Filmemachers, die nach Jahren wieder auftaucht.

Zugleich zeichnet "Curtiz" die Entstehung von "Casablanca" im Zweiten Weltkrieg nach. Ein halbes Jahr vor Drehbeginn hatte Japan den Marinestützpunkt Pearl Harbor angegriffen. Ein von der US-Regierung nach Hollywood geschickter Mr. Johnson (Declan Hannigan) setzt die Produktion unter Druck. "Casablanca" soll einer der Filme werden, die das amerikanische Volk auf den Kampf der Alliierten gegen Nazideutschland einschwören. Curtiz beharrt darauf, Filme und keine Politik zu machen. Doch der Krieg und die Nazis betreffen den Regisseur auch persönlich. Er ist Jude, und seine Schwester sitzt in Ungarn fest. Curtiz zögert noch, ihr zu helfen.

"Curtiz" ist ein spannender, unterhaltsamer Film, der sich trotz Schwarzweiß-Ästhetik und Jazz-Untermalung mitunter schwertut, das historische Kolorit hervorzuzaubern. Man kriegt auf jeden Fall Lust, "Casablanca" wieder anzusehen. Ebenso lohnend: Curtiz-Meisterwerke wie "Chicago – Engel mit schmutzigen Gesichtern" mit Bogart und James Cagney oder "Mildred Pierce – Solange ein Herz schlägt" mit Joan Crawford). Deuten wir die Coronakrise doch einfach als Heimkino-Festival um!

"Curtiz", auf Netflix



Die Geschichte einer Verwandlung

Esty wächst in einer chassidischen Gemeinde in Williamsburg, NYC, bei ihrer Großmutter und Tante auf, da ihre Mutter aus der jüdischen Gemeinschaft geflohen war. Sie liebt das Singen und Musik, bei einer Mieterin der Familie bekommt sie heimlich Klavierstunden. Selbst Musik machen ist für Mädchen im orthodoxen Judentum eigentlich streng verboten. Immer wieder wird ihr gesagt, sie sei anders, als die anderen Mädchen.

Auch sie selbst spürt das und erklärt es dem jungen Yakov, mit dem sie verheiratet werden soll. In der Ehe schließlich spürt sie mehr und mehr ihre Unterdrückung im extrem patriarchalen System der Gemeinde und sieht als einzigen Ausweg die Flucht. Ausgerechnet Berlin wird ihr Ziel, dort soll auch ihre verschollene Mutter ein Zuhause gefunden haben. In Deutschland angekommen, befreundet sie sich etwas zu schnell mit einer etwas zu herzlichen, multikulturellen Gruppe von brillanten Musikstudenten, die sie direkt adoptieren und dank ein paar Vintage-Klamotten und Kurzhaarschnitt wird Esty rasch eine erstklassige Berlinerin.

Doch ihr Ehemann macht sich bald auf die Suche nach seiner verschwundenen Frau. Der in New York spielende Teil der Miniserie ist autobiografisch und erzählt die Geschichte von Deborah Feldmann, was die Serie noch intensiver und berührender macht. Die beste Szene: Esty watet in den Wannsee und reißt sich die Perücke von ihrem abrasierten Kopf. 

"Unorthodox", auf Netflix



Die Geheimnisse des Flughafens Tempelhof

Was aus dem einst größten Gebäude der Welt einmal abschließend werden soll, ist noch immer unklar. Doch auch jetzt schon prägt der ehemalige Flughafen Tempelhof das kulturelle Leben in Berlin. Im Sommer tanzen, picknicken und trainieren die Menschen auf dem ehemaligen Flugfeld, in den Hangars finden Messen und Veranstaltungen statt, unter anderem bis 2019 die Kunstmesse Art Berlin, die im vergangegen Dezember beerdigt wurde.

Die megalomane Nazi-Architektur des Hauptgebäudes prägt das Berliner Stadtbild, die meisten Räume an diesem historischen Ort bleiben der Öffentlichkeit verborgen. Diese Dokumentation zeigt die wechselhafte Geschichte des Flughafens von der NS-Zeit bis heute und seine Relevanz für die Stadt Berlin. Vor diesem Hintergrund erhält die Forderung, diesen Bau dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, noch mehr Gewicht. 

"Geheimnisvolle Orte: Der Flughafen Tempelhof", 3 Sat Mediathek, bis 20. April


Der Alien-Effekt mit Alla Pop

Es gab wohl selten eine besser Zeit, um neue Dinge zu lernen. Wer immer schonmal wissen wollte, wie man seinen eigenen Face-Filter erstellt, der wird ihm Rahmenprogramm des digitalen Festivals “Spy on Me #2 - Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart” des Berliner Schauspielhauses Hebbel am Ufer (HAU) fündig. In einem Video-Tutorial zeigt die digitale Künstlerin Alla Popp, wie sich mit dem kostenfreien Programm "Spark AR" eigene Masken erstellen lassen und diskutiert nebenher mit ihrer Kollegin Ksti Hu die politischen Implikationen von Gesichtserkennungs-Filtern.

"Alla Popp – #alieneffect Facefilter Workshop für Anfänger*innen // Spy on Me #2 Online Programme", auf Youtube


Zur Abwechslung mal eine andere Art von Katastrophe

Nachdem er in seinem düsteren Filmdebüt “Donnie Darko” virtuos Teenage-Nihilismus, Multiverse-Theorien und apokalyptische Fantasien miteinander verwob, widmete sich Regisseur Richard Kelley dem Genre des Endzeitkatastrophenfilms mit “Southland Tales” auf gänzlich andere Weise. Die überdrehte Polit-Satire spielt in einem postnuklearen Amerika, in dem neomarxistische Widerstandsgruppen gegen einen totalitären Überwachungsstaat kämpfen, während das Fracking nach einer halluzinogenen Substanz namens Fluid Karma langsam aber sicher die Rotation des Planeten ausbremst und einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum erzeugt.

Mit Dwayne Johnson in der Hauptrolle des Actionfilmstars Boxer Santaros, Justin Timberlake als Kampfpilot und “Buffy”-Star Sarah Michelle Gellar als hellseherische Pornodarstellerin, bietet der Film größenwahnsinnigen 2000er-Americana-Trash, der sich mit seiner Entsagung konventioneller Narrationsstrukturen heute aktueller denn je anfühlt.

"Southland Tales", auf Mubi