Das Thema "20er-Jahre" ist nicht gerade neu. Neben vielen Publikationen gab und gibt es zahlreiche Ausstellungen hierzu, so wie 2020 im Kunsthaus Zürich. Und auch die TV-Serie "Babylon Berlin" tat ihr Übriges, um die brausenden 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts ins gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken.
Nun hat sich die Bundeskunsthalle der Dekade angenommen, als "Kaleidoskop der Moderne" wie es im Titel heißt. "Kaum ein Jahrzehnt hat sich nachträglich einer solchen Beliebtheit erfreut", erklärte Kuratorin Agnieszka Lulinska anlässlich der Eröffnung Ende März. Um kein einseitiges Klischeebild zu präsentieren, habe man bei der Konzipierung versucht, "über den Tellerrand" zu schauen und auch internationale Facetten einzubeziehen. "Wir wollen weg von der sehr verbreiteten Vorstellung von den goldenen, verrückten, wilden 20ern, hin zu einer differenzierteren Betrachtung wie durch ein Kaleidoskop, das viele Überraschungen bietet", so Lulinska.
Drei große Themenblöcke sollen beim Durchblick helfen: Städte, Menschenbilder und schließlich die Lebenswelten. Eine Fülle von Material hat die Kuratorin hierfür zusammengetragen. Neben Gemälden, Zeichnungen, architektonischen Entwürfen, Briefwechseln und Fotografien sind dies auch Radio- und Filmaufnahmen, die als aufkommende Massenmedien die Zeit bezeugen. Mehr als 70 Leihgeber, Museen und Institutionen, viele davon aus dem ost- oder nordeuropäischen Raum, haben Objekte zur Verfügung gestellt.
"Neue Einheit in Leben, Kunst und Kultur"
Gleich auf der zentralen Plaza im Entree zieht ein himmelblauer Bugatti die Blicke auf sich. Zwei Dinge symbolisiert der Oldtimer, der als Rennwagen zuletzt 2019 im Einsatz war: das Tempo, mit dem sich Innovationen, wie eben das noch junge Automobil, in jener Zeit rasend verbreiteten und den Glanz, den sie versprühten.
Solche modernen Technologien waren es, die die Menschen vor allem der Arbeit wegen in die Städte trieb. Enorme Verkehrsaufkommen und veränderte Lebensgewohnheiten brachten neue Herausforderungen mit sich. Fortschrittliche Architekten konzipierten ideale Städte und Siedlungen in einer radikal neuen Formensprache. Fortschrittsdenken und der Glaube an politisch und sozial motivierte Zukunftsvisionen prägten auch die junge, künstlerische Avantgarde.
Die allgegenwärtige Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg, der alles aus den Fugen hob, mündete unter anderem in das Bauhaus und sein niederländisches Pendant De Stijl. Eine "neue Einheit in Leben, Kunst und Kultur" sollte entstehen. Die osteuropäische Avantgarde rund um Kasimir Malewitsch, El Lissitzky und Gustav Klucis entwickelte parallel dazu ihre utopischen Entwürfe von einem modernen Leben, denen der sozialistische Realismus nach dem politischen Kurswechsel in Sowjetrussland ein jähes Ende bereitete.
Körperkult und Invaliden
Neben Paris, Shanghai, Mexiko-Stadt und Berlin war es besonders New York, das in den 1920er Jahren in die Höhe schoss und zu einer globalen Megacity heranwuchs. Viele Ethnien kamen hier zusammen. Von hier aus schwappte auch der Afro-Jazz nach Europa. Die Faszination, die der Jazz – trotz aller rassistischen Ressentiments – ausübte, zeigt in der Ausstellung eindrücklich eine große Fotowand mit swingenden Schwarzen Musikern und Musikerinnen aus Harlem. Dorthin zogen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorrangig afroamerikanische Familien, weshalb der New Yorker Stadtteil bald schon zur größten Schwarzen Gemeinde der Welt wurde.
Josephine Baker, Duke Ellington und Louis Armstrong treten hier mit ihren legendären Cotton-Club-Auftritten ihren weltweiten Siegeszug an. Von New York aus erobert auch der Sport die Welt. Die "körperliche Selbstoptimierung" nimmt an Fahrt auf. Autorennen, Laufsport und Boxen sind angesagt, auch Bertolt Brecht erweist sich als großer Fan des Letztgenannten. Eine schlanke Figur, Mobilität und Beweglichkeit stehen im makabren Kontrast zu den vielen Kriegsinvaliden, die im Wortsinn bettelnd die Straßen pflasterten und wiederum der plastischen Chirurgie zu einem ersten Boom – auch im privaten Bereich – verhalfen.
Die Schattenseiten der Metropolen brachte neben Künstlern wie George Grosz und Otto Dix, die diese Kriegsversehrten malten, auch der Kölner Franz M. Jansen zu Papier. Während in seinem "Großstadthaus" von 1921 im Souterrain und unterm Dach das blanke Elend haust, vergnügen sich solvente Herren in der Bel Etage mit Prostituierten. Im Stock darüber verprügelt ein Betrunkener seine Frau. Und auch der ausgemergelte "Zeitungsjunge", von Conrad Felixmüller im Jahr 1928 gemalt, spiegelt die Zustände jener Jahre wider, die für einen Großteil der Bevölkerung alles andere als "golden" waren.
Viele Parallelen zu heute
Bei alledem wird deutlich, wie ähnlich sich Vergangenheit und Gegenwart in vielerlei Hinsicht doch sind: Was gestern androgyn hieß, könnte man heute zum Teil queer nennen. 2008 wurden – ähnlich wie schon 1929 – viele Menschen in den finanziellen Ruin gestürzt. Die Spanische Grippe raffte Millionen dahin, darunter junge Talente wie Egon Schiele und dessen schwangere Frau. Bei Edvard Munch, der die Krankheit überlebte, sind die Spuren in seinem Selbstbildnis von 1919 allenthalben sichtbar. Und auch wir haben gerade eine Pandemie hinter uns, die massenhaft Menschen hat sterben lassen.
Das Telefon, das bei den Telefonistinnen von damals die Drähte heiß werden ließ, ist heute als "smartes Phone" zum ständigen Begleiter geworden. Die Frau, die sich in den 1920ern neu definiert, löst einen nie dagewesenen Drang nach Unabhängigkeit aus, der bis heute andauert. "Es ist das Jahrzehnt der Frau", sagt Agnieszka Lulinska. Das macht sich auch in der Tabak- und Autoindustrie bemerkbar, die das neue "Working Girl" als Werbeträgerin für sich entdeckt.
Kein Wunder, denn die Haare und Röcke werden kürzer, die Zigarette, als unverzichtbares Requisit der Emanzipation, hingegen länger: es wird mit Spitze geraucht. In erstaunlich vielen Portraits kommt das neue Selbstbewusstsein zum Tragen, etwa in "Frau mit Zigarette" von Carl Walther oder bei der französischen Fotografin Claude Cahun, die mal als Frau, mal als Mann, selbstsicher ihren Weg geht.
Neue Namen, neues Restaurant
Bewusst hat die Kuratorin darauf geachtet, auch weniger bekannten – vielfach weiblichen – Künstlern Ausstellungsraum zu bieten. So malt die Lettin Aleksandra Belcova ihre Schwester, in Hosen, Ballerinas und Tunika, als "aufgeklärte" Frau auf einem Sofa liegend. Ein Beispiel für den modernen Lifestyle jener Zeit und fast übertragbar auf gegenwärtige Verhältnisse. Wäre da nicht ein ebenso unübersehbares, wie aus heutiger Sicht fragwürdiges Detail: vor der Frau kniet deren Angestellte, eine junge Thai.
Parallel zur Eröffnung der Ausstellung startet auch das neue Restaurant Gustav (benannt nach dem Architekten der Bundeskunsthalle Gustav Peichl) seinen Betrieb. Es wurde, angelehnt an den ursprünglichen Caféhaus-Stil, von den Berliner Künstlern Alicja Kwade und Gregor Hildebrandt gestaltet. Während Kwade einen eigenwilligen Erdkugel-Stuhl kreierte, dessen Sitzfläche auf die Frage anspielt, wie wir Menschen "diesen unseren" Planeten besetzen, schuf Hildebrandt eine Vinyl-Trennwand aus schwarzen Plattenschalen, die mit dem Schachbrettmuster des Bodens korrespondieren. Beibehalten wurden die Thonet-Stühle, wie auch die Bar am Kopfende des Raumes und die Zweiteilung des Raumes.