Die ganze Welt ist voller Orlandos
Auf dem Plakat an der Hauswand steht: "Orlando, wo bist du?" Eine exzentrische literarische Suchanzeige? Es ist der spanische Queer-Theoretiker, Documenta-14-Kurator und Transgender-Aktivist Paul B. Preciado, dem man nachts dabei zusieht, wie er weitere Plakate klebt und davon erzählt, warum er lieber einen Film gedreht hat, als eine klassische Biografie zu schreiben. "Weil die verfluchte Virginia Woolf meine Biografie schrieb, bereits 1928", stellt er lapidar fest.
Zur Erinnerung: Woolfs Roman begleitet einen jungen Adligen durch mehrere Epochen, bis er sich auf magische Weise im Schlaf in eine Frau verwandelt und wie selbstverständlich die Rollenspiele des neuen Geschlechts beherrscht. 1992 verfilmte Sally Potter diese Kampfansage an eine Mann-Frau-Dialektik mit Tilda Swinton in der Hauptrolle, eine ideale Besetzung, ist doch die adlige Schottin bis heute die ultimative Verkörperung einer androgynen Arthouse-Kino-Queen, die selbst in Blockbustern ihren besonderen Charme zu platzieren weiß.
30 Jahre später ist Woolfs zu Metamorphosen neigende Figur, die Herrschaft und Gewalt hinter sich gelassen hat, aktueller denn je. Der 54-jährige Regisseur von "Orlando, meine politische Biografie", ist nicht nur selbst trans. Er steht mit Büchern wie dem "Kontrasexuellen Manifest" oder "Testo Junkie", einer biografisch gefärbten Analyse über die Einnahme von Testosteron, an der Spitze des Diskurses.
Es will schon etwas heißen, dass er seine erste Filmarbeit als eine Art "filmischen Brief" an die Schriftstellerin versteht, die sich 1941 unter dem Eindruck der deutschen Luftangriffe umgebracht hatte. Er, Preciado, ist ein Orlando. Und es gibt viele von ihnen. 27 sind es in dem Film. Sie schlafen im Grünen, blicken in die Kamera oder improvisieren lustige Spielszenen.
Das Konzept der Polyphonie durchzieht allgegenwärtig die losen Handlungsstränge. Neben Preciados aus dem Off vorgetragenen Gedanken sieht man queere Menschen zwischen acht und 70 Jahren eine weiße Halskrause à la Orlando tragen. Sie zitieren Woolf und erzählen von den ersten Gefühlen, im falschen Körper zu sein, den Ärzten und Psychiatern mit ihren demütigenden Ratschlägen, bis hin zur ersten Hormoneinnahme oder Operation. Eine Station im Wartezimmer einer Arztpraxis gerät dabei zum wilden Musikvideo, wenn die Orlandos zu tanzen und singen beginnen und dabei ihren Widerstand gegen Freud und Lacan als "Pharmacoliberation" feiern. Der Wunsch nach einer "Orlandisation" lässt sich aus den vielen Körpern, denen man in dieser Wiederaufnahme eines Literaturklassikers begegnet, jedenfalls nicht auslöschen. Sie strahlen in der kunstvoll ausgeleuchteten Studiokulisse und man darf gespannt sein, wie diese Apotheose des Dazwischen selbst fort- und umgeschrieben wird.
"Orlando - meine politische Biografie", Arte-Mediathek, bis 7. April

"Orlando - meine politische Biografie", Filmstill, 2023
Wie die Französin Alice Guy Blaché und die italienische Filmemacherin Elvira Notari zählt auch die gebürtige Wienerin Luise Fleck (1873-1950) zu den vergessenen Filmschaffenden des frühen Kinos. Eine Dokumentation der Regisseurin Uli Jürgens auf 3sat erinnert nun an das Leben und Schaffen einer außergewöhnlichen Frau, die in den 1910er-Jahren Mitbegründerin der ersten österreichischen Filmproduktionsfirma war, Dutzende Drehbücher schrieb, weit über 150-mal Regie führte und sich um technische Belange, den Schnitt und den Verleih der fertigen Werke kümmerte.
Als Aloisia Veltée im Jahr 1873 geboren, begeisterte sich die Tochter eines Wiener Stadtpanoptikum-Besitzers früh für das neue Medium Film. Gemeinsam mit ihrem ersten Mann, dem Fotografen Anton Kolm, und dem jüdischen Kameramann Jakob Fleck (Louises späterem zweiten Ehemann) versuchte sie sich zunächst an noch sehr theaterhaften Stummfilm-Inszenierungen. Mitte der 1920er – und vor dem Hintergrund eines zunehmenden Antisemitismus – arbeitete das Regiepaar Fleck (Kolm war 1922 in Wien verstorben) einige Jahre in Deutschland. Unter den zahlreichen Sozialdramen, die in Babelsberg entstanden, besticht "Mädchen am Kreuz" (1929) – aus dem Ausschnitte zu sehen sind – durch kluge Inszenierung und vor allem eine ungewöhnlich offene Darstellung sexueller Gewalt. Die zeitgenössische Filmkritik fand die Figur des Vergewaltigers, einen eher schmächtigen Mann, nicht überzeugend. Umso stärker wirkt der Film heute, weil deutlich wird, dass hier nicht ein einzelner Akt sexueller Aggression, sondern strukturelle Gewalt thematisiert wird.
"Mädchen am Kreuz" wird noch als Stummfilm gedreht, doch dem Siegeszug des Tons können sich die Flecks nicht verweigern. Die kompliziertere Technik mindert die künstlerischen Möglichkeiten, das wird anhand der Tonfilmproduktion in Deutschland und (zwischen 1937 und 1940) wieder in Österreich, deutlich. 1940 fliehen die Flecks vor den Nazis nach Shanghai – und drehen auf Chinesisch mit einheimischen Darstellern. Nach Kriegsende macht sich das betagte Regiepaar auf die Heimreise nach Österreich – im Gepäck ein fertiges Drehbuch und zahlreiche Ideen für einen Wiederanfang, der jedoch nicht gelingt.
Im März 1950 stirbt Louise Fleck, deren filmhistorisch bedeutendes Schaffen erst in jüngster Zeit eine neue Wertschätzung erfährt. In Uli Jürgens’ interessantem Porträt kommt neben dem österreichischen Filmarchiv-Sammlungsleiter Nikolaus Wostry und der Medienwissenschaftlerin Monika Berchtold auch die Kamerafrau Caroline Bobek zu Wort, Trägerin des seit 2018 verliehenen Louise-Fleck-Filmpreises.
"Louise Fleck - Filmpionierin", 3sat-Mediathek, bis 15. April

"Louise Fleck - Filmpionierin", Filmstill
Wie klassistisch ist die Kunst?
Bei der Venedig-Biennale 2024 waren viele Besucher tief bewegt von Ersan Mondtags Performance-Installation im deutschen Pavillon. Dort ließ er einen brutalistischen Turm im Hauptraum errichten, dessen Einrichtung und Theater-Aktivierung sich auf das Leben seines Großvaters bezog. Dieser kam aus Anatolien, musste als "Gastarbeiter" in Deutschland mit Asbest hantieren und starb mutmaßlich auch deshalb früh an Krebs. Dass ein Künstler aus einer Arbeiterfamilie von migrantischen Arbeiterbiografien erzählt, ist in der Kunst immer noch eine Seltenheit. Denn die allermeisten Kreativen, die von ihrer Leidenschaft leben können, stammen aus privilegierten Verhältnissen und stehen der academia näher als der Maloche auf dem Bau.
Warum das so ist und welche Rolle Herkunft in der Kunst spielt, versucht der 3sat-Film "Kultur - Ein Elitending?" zu ergründen. Lilly Schlagnitweit und Lisa Polster fragen sich darin, wie wichtig bestimmte Verhaltenscodes und Netzwerke in der Branche sind und wer sich überhaupt leisten kann, Künstlerin oder Künstlerin zu werden. Dafür sprechen sie mit denen, die Klassismus selbst erlebt haben, nun aber doch im Rampenlicht stehen: unter anderem Stefanie Sargnagel, Christiane Rösinger, Verena Brakonier und eben Ersan Mondtag.
Dabei entsteht eine gewisse Ironie, weil vor allem die zu Wort kommen, die es trotz schwieriger Startbedingungen "geschafft" haben. Die, die unsichtbar bleiben, sind es naturgemäß auch hier. Trotzdem ermöglicht die Dokumentation einen differenzierten Blick auf ein Thema, das die Kunst bei aller Sensibilität gern ausblendet. Und auch die größeren Zusammenhänge werden thematisiert. Denn die Kürzungen in der Kulturförderung, die flächendeckend drohen, treffen gerade die, die kein Polster von zu Hause mitbringen.
"Kultur – ein Elitending?", 3sat-Mediathek, bis Dezember 2025
Theater-Regisseur Ersan Mondtag
Ach, skandinavischer Künstler müsste man sein! Vollgepumpt mit Stipendien könnte man sich ganz auf seine wohlfeile Weltverbesserungskunst à la Ólafur Elíasson und Tue Greenfort oder auf Boutiquekunst à la Yngve Holen konzentrierten. Der schwedische Regisseur Ruben Östlund hatte 2017 mit seiner Satire "The Square" die Widersprüche der nordischen Kunstszene sauber herausgearbeitet, und auch Kristoffer Borglis Regiedebüt "Sick of Myself", das in Cannes Premiere hatte, könnte man eine Kunstwelt-Persiflage nennen.
Darin wird der Künstler Thomas – dessen Werk vor allem daraus besteht, Designmöbel zu stehlen und dann auszustellen – als karrieregeil und selbstbezogen dargestellt. Die Aufmerksamkeit, die er bekommt, neidet ihm seine Freundin Signe, die nun im Schatten steht: in der Wahrnehmung von Thomas und den Freunden.
Was also tun? Sie nimmt heimlich synthetische Drogen aus dem Darknet, um mit den krassen Nebenwirkungen – ein mysteriöser Hautausschlag – zu punkten. Das funktioniert auch so weit ganz gut: Solange, wie die Abweichung von der Norm noch pittoresk ist, kann sie ins System eingearbeitet werden – das gilt für die Mode- und die Kunstwelt gleichermaßen. Dann übertreibt es Signe aber ein bisschen. "Sick of Myself" ist eine schwarze Komödie aus Norwegen, die sich über ein sattes Milieu lustig macht, und eine Generation, die ständig ihr Selbst performen muss. Den Titel kann man nicht nur als den Überdruss an der eigenen Person lesen, sondern auch an der schleichenden Vergiftung durch ein zu großes Ego.
"Sick of Myself", Yorck Kino on demand

"Sick of Myself", Filmstill, 2023
Die Kunst des Dienens
Im Dienst der Kaiserin von Österreich muss man auf Zack sein. Dass Irma Sztáray gerade aus dem Boot gestiegen ist, interessiert niemanden, als die neue Hofdame auf der griechischen Insel Korfu schweißgebadet ankommt. Ein Glas Wasser wird ihr auch verwehrt. Stattdessen muss Irma erstmal ihre Fähigkeiten im Hürdenlauf unter Beweis stellen – unter den Augen von Elisabeth von Österreich-Ungarn, die den Neuzugang vorerst aus der Deckung begutachtet. Mit körperlicher Robustheit, Bildung und Witz nimmt Irma Sisi bald für sich ein.
"Sisi & Ich" ist die freie Adaption der Erinnerungen von Irma Gräfin Sztáray von Sztára und Nagy-Mihály, der letzten Hofdame der Kaiserin, die auch Zeugin des Attentats auf Elisabeth war, bei dem die Kaiserin am 10. September 1898 am Genfersee tödlich verwundet wurde. In dem von der Regisseurin Frauke Finsterwalder und ihrem Mann Christian Kracht gemeinsam geschriebenen Drehbuch wird die Szene nicht ausgelassen. Doch "Sisi & Ich" ist erst einmal alles andere als ein schwermütiger Film. Das Duo erzählt die Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen. Zugleich gestalten sie die éducation sentimentale der Zentralfigur Irma, die sich unter dem Einfluss ihrer kaiserlichen Freundin von ihrer rigiden bis bösartigen Mutter emanzipiert und zu einer selbstbestimmten Frau reift.
Wie bei ihrem vorherigen (und ersten) Spielfilm "Finsterworld" arbeitete Finsterwalder wieder mit Sandra Hüller zusammen, die Irmas Entwicklung von der Dienerin zur intimen Vertrauten eindrücklich nachvollzieht. Zwischen Hüller und der zwischen Strenge, innerer Kraft, kindlicher Hilflosigkeit und Ausgelassenheit pendelnden, ja launenhaften Kaiserin von Susanne Wolff stimmt die Chemie. Wer überhaupt könnte die vermutlich charismatischste Frau ihrer Zeit besser verkörpern als Wolff, der die Wechsel zwischen Komödie und Tragik spielend gelingen? Über die Protagonistinnen hinaus ist der Film bis in die kleinsten Rollen glänzend besetzt; hervorragend noch Georg Friedrich als Sisis schwuler Schwager Viktor.
"Sisi & ich", Arte-Mediathek, bis 5. April

"Sisi & ich", Filmstill, 2023
Der Weltraum hat Künstlerinnen und Künstler schon immer fasziniert: Das Imaginieren des Unbekannten, die Endlosigkeit, die sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzieht. Gerade sieht es aber so aus, als würden nun auch die fernen Planeten von reichen Männern beansprucht. Amazon-Gründer Jeff Bezos schießt sich und seine Freunde ins All, Elon Musk will bekanntlich den Mars kolonisieren und füllt die Erdumlaufbahn mit Satellitenschrott.
Es ist also ein guter Zeitpunkt, sich daran zu erinnern, dass der Weltraum nicht nur zur kapitalistischen Verwertung, sondern auch zur poetischen Erschließung da ist. Dies zeigt eine Videosammlung des dänischen Louisiana-Museums nahe Kopenhagen, in der das Verhältnis von Kreativen zum Kosmos thematisiert wird. Dort kann man beispielsweise die Liebe von US-Künstlerin Kiki Smith zu den Planeten nachvollziehen, bei Tom Sachs und Trevor Paglen beherrschen nicht Milliardäre, sondern Künstler den "Outer Space". Auch die deutsche Bildhauerin Alicja Kwade kommt in ihrem Berliner Studio zu Wort. "Meine Arbeit beginnt, wo ich aufhöre, zu verstehen", sagt sie über ihre Themenwahl.
"On Outer Space", Louisiana Channel

Trevor Paglen "Moving Through the Night Sky", zu sehen im Louisiana Channel
Im Kiez mit Peter Fox
Jetzt, Anfang April, ist eigentlich mal wieder der Zeitpunkt erreicht, wo man nur noch wegwill aus Berlin: Seit fünf Monaten Winter, Menschen in fifty shades of grey, depressives Stadtleben, dazu noch BVG-Streiks, und der Müll wird auch nur noch sporadisch abgeholt.
Wer sich den Flug in die Südsee gerade zufällig nicht leisten kann, findet allerschönsten Trost in der Doku "Block Party". Untertitel: "Peter Fox feiert mit Berlin". Im Sommer 2024 plante der Musiker Gratis-Konzerte für die Bewohnerinnen und Bewohner an "Brennpunkten" in Neukölln, Kreuzberg, Marzahn und Schöneberg. Mit seinem Album "Love Songs" hatte er im Jahr davor die größten Konzert-Locations ausverkauft, jetzt wollte er der Stadt etwas zurückgeben, ihre borstige Schönheit feiern.
Die Idee: Kostenlose Konzerte genau an jenen Orten, die in den Boulevardmedien und bei Berlin-Hassern besonders verrucht sind, Bekanntmachung nur über Flyer in den Hauseingängen, damit am Ende nicht lauter Münchner und Frankfurter vor der Bühne stehen, wie Fox es im Film einmal sagt. Als Vorbands Newcomerinnen und Newcomer aus den Kiezen, die erstmals vor großem Publikum auftreten können.
David Seebergs fantastisches Dokumentar-Format begleitet Fox bei den Vorbereitungen, zeigt seinen Kampf mit den Behörden (Sicherheitsauflagen und so weiter – am Ende stehen drei der Termine kurz vor der Absage), erzählt vor allem aber auch von den Jungmusikern, die Fox zu Hause besucht, von ihrem Leben, ihren Problemen, ihren Freunden. "Block Party" ist Konzert-Doku, Sozialstudie, Stadt-Hommage; rant gegen die "Bild", gegen Nazis, gegen alle mit Stock im Arsch. Wer während der anderthalb Stunden nicht wenigstens einmal tanzen, zweimal weinen und dann wieder tanzen will, dem wird die Schönheit des "dicken B oben an der Spree" wohl für immer verborgen bleiben.
"Block Party - Peter Fox feiert mit Berlin", ARD-Mediathek

Musiker Peter Fox
Die Architektin Eileen Gray und das gekränkte männliche Genie
Weiße Fassaden, große Fenster. Nachts hört man die Zikaden. Tagsüber lockt das Wasser, auch wenn der felsige Abstieg zum schmalen Strand erst überwunden werden muss. Die irische Designerin Eileen Gray baute 1929 für Jean Badovici, Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift "L´Architecture Vivante", einen Rückzugsort an der Côte d'Azur. Ihr erstes Haus, das einem gestrandeten Passagierschiff ähnelte, taufte sie auf den Namen E.1027 – eine Kombination ihrer beider Initialen.
Heute gilt es als Ikone der Moderne, deren Geschichte genug Stoff für ein turbulentes Drama bietet. Beatrice Minger und Christoph Schaub, die gemeinsam am Originalschauplatz Regie führten, wählten für ihren Film "E.1027 - Eileen Gray und das Haus am Meer" einen subtileren Ansatz. Sie ließen Natalie Radmall-Quirke in die Rolle der Architektin schlüpfen und setzten neben ihrem Voiceover auf Dokumentar-Elemente und nachgestellte Szenen. Das Ergebnis ist eine atmosphärische Reise in die Gedankenwelt einer Frau, die ihre Unabhängigkeit und Ruhe mehr schätzte als den Ruhm. Das Glück währte nur zwei Jahre. Badovici lud Le Corbusier ein. Ein Fehler, denn der Großarchitekt ertrug es nicht, dass einer Frau, die bisher Teppiche, Beistelltische und Leuchten entwarf, dieses Gesamtkunstwerk gelungen ist.
Als sie auszog, um in der Nähe ein zweites Haus zu bauen, malte er bunte Fresken nackter Frauen auf die weißen Wände und veröffentlichte Fotos davon. Gray bezeichnete die Aneignung als Vandalismus und verlangte, Le Corbusier solle die Wände zurückstreichen. Er baute stattdessen wettbewerbsbewusst direkt hinter E.1027 seine berühmte Holzhütte Le Cabanon, womit er der Konkurrentin die Aura des Geländes, zu dem heute Architekturliebhaber pilgern, streitig machte. Am Ende sieht man die 96-Jährige in einem TV-Interview. Die Wut über Le Corbusiers eitle "Intervention" scheint verflogen. Eine wunderbar elegische Lektion über die Kraft der weiblichen Kreativität und die Antwort eines gekränkten "Genies".
"E.1027 - Eileen Gray und das Haus am Meer", auf Vimeo zum Leihen und Kaufen

Natalie Radmall-Quirke als Eileen Gray in "E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer", Filmstill, 2024
"Tatort Kunstgeschichte"
Malerinnen und Bildhauerinnen gibt es seit Jahrtausenden. Trotzdem finden sie in der Geschichte der Kunst erst seit kurzem Platz. Die Künstlerin Oskar Rink und der Künstler Alexander Höller begeben sich in der zweiteiligen Dokumentation "Die großen Frauen der Kunst" auf detektivische Arbeit durch die Epochen und graben Namen aus, die längst vergessen schienen.
Auf einer Glaswand, die ein wenig an die Boards erinnert, die in Polizeirevieren aus "Tatort" und Co. zur Mordrekonstruktion genutzt werden, sammelt das "Ermittler-Duo" chronologisch Frauen, die aus der Kunstgeschichte getilgt wurden. Davon ausgehend unternehmen die Zuschauenden in knapp 70 Minuten gemeinsam mit den beiden Moderatoren Ausflüge in die großen Museen Europas, um im Gespräch mit Kuratorinnen und Autoren große Künstlerinnen wie Angelika Kauffmann, Artemisia Gentileschi, Rosa Bonheur oder Hilma af Klint kennenzulernen und Antworten auf Linda Nochlins noch immer relevante Frage zu finden: "Why have there been no great women artists?"
"Die großen Frauen der Kunst", 3sat-Mediathek, bis Februar 2030

"Die großen Frauen der Kunst", Filmstill, 2024
Hommage an Kasper König
"Schuhkarton" hat Kasper König den Portikus manchmal genannt. Zwar hatte die von ihm 1987 gegründete Ausstellungshalle in Frankfurt am Main hochtrabende korinthische Säulen von 1825, dahinter aber war temporär ein Container angeflanscht. Die Genehmigung der von Marie-Theres Deutsch entwickelten "fliegenden Architektur" war immer wieder verlängert worden. Aber schon nach kurzer Zeit war es ohnehin in Stein gemeißelt, dass es sich um einen bedeutenden Inkubator der Kunst handelt, angedockt an die Städelschule, deren Direktor Kasper König von 1989 bis 2000 war.
Für den im August letzten Jahres in Berlin verstorbenen Kurator fand dort zum Ende des Semesters eine Gedenkveranstaltung statt, auf der die Künstlerin und Städel-Absolventin Sunah Choi einen Film zu Kasper Königs Wirken am Portikus präsentierte. Zugrunde lag das Video-Archiv von Helke Bayrle, die seit 1992 bis zu ihrem Tod 2022 nahezu jeden Ausstellungsaufbau im Portikus mit ihrer Videokamera begleitet hatte.
Das Besondere an Bayrles Langzeit-Dokumentation ist einerseits die hellsichtige Gewissenhaftigkeit, mit der sie die Aufgabe als Kunstprojekt eigenen Ranges auffasste, und andererseits ihr Verzicht auf Priorisierung. Alles ist in ihren ruhigen Beobachtungen gleich wichtig, gleich interessant. Ob Besprechungsszenen oder das Aufbauteam in Aktion, ob ruhige Momente des Schauens oder wimmelige Eröffnungsabende. Erst in der Gesamtheit ergibt sich das große Bild. Diesen Ansatz teilte die Künstlerin mit ihrem Mann, dem Städelschul-Professor Thomas Bayrle: Es gelang ihr, eine zutreffende Beschreibung zu finden, die nicht von den Pointen oder den Extremen herrührt, sondern aus der Mitte.
"Kasper König im Portikus", bei Vimeo

Kasper König (links) arbeitet 1995 als Direktor des Portikus mit Wolfgang Tillmans an dessen Ausstellung, Filmstill aus "1992-2000: Kasper König im Portikus"
Raub, Betrug und Enttäuschungen auf dem Kunstmarkt
Eine der interessantesten, heikelsten und gleichzeitig banalsten Facetten der bildenden Kunst entsteht aus ihrer Nähe zum Kapital – je nachdem, wie sie sich selbst in dieser Bedingtheit emanzipiert. Während darstellende und angewandte Künste, Literatur, Theater und Musik vielfältige Produktions- und Verbreitungswege gefunden hat, bleibt die am Fetisch des Originals hängende Objektkunst ein Gegenstand von Spekulationen, umschwirrt von Reichen, aber auch von Kriminellen. Wie schnell etwa wichtige Überzeugungsarbeit von Galeristen in Betrug kippen kann, zeigt eine 3sat-Dokumentation mit dem schlichten Titel "Fürs Geld – Drei spektakuläre Kunstbetrüge". Darin geht es unter anderen um den Fall des verurteilten US-Kunsthändlers Inigo Philbrick, der als "Serienschwindler", wie ihn der Richter später nennen wird, Sammler um Millionen gebracht hat.
Philbrick verkaufte unter anderem Kunstwerk-Anteile, die zusammen mehr als 100 Prozent ergaben, an verschiedene Interessenten. Der talentierte junge Mann, der für seinen ausschweifenden Lebensstil bekannt war, hatte sich auf den Sekundärmarkt und das sogenannte "Art Flipping" spezialisiert, also den Spekulationshandel, bei dem Kunstwerke möglichst günstig erworben und mit hohem Gewinn weiterverkauft werden. Außerdem hat Philbrick Investoren betrügerische Dokumente zu einzelnen Werken präsentiert.
Der Film lässt die New Yorker "Artnet"-Journalistin Eileen Kinsella und einen Anwalt zu Wort kommen, die den unglaublichen Fall, bei dem auch deutsche Sammler geschädigt wurden, detailliert aufrollen. Nach ersten Vorwürfen und Klagen war Philbrick untergetaucht und wurde 2020 auf der Südseeinsel Vanuatu verhaftet. 2022 wurde er zu sieben Jahre Haft verurteilt, 2024 in den Hausarrest entlassen. "Eitelkeit und Gier" habe ihn angetrieben, sagt Philbrick im Gerichtsprozess. "Ich versuchte, einen Weg zu finden, um ein Leben zu führen, das nicht wahr ist."
Die schillernde Geschichte offenbart Auswüchse im System, die nichts mehr mit der eigentlichen Kunst zu tun hat. Bei dem Rechtsstreit des niederländischen Sammlers Bert Kreuk mit dem in Berliner Künstler Danh Vo, den "Fürs Geld" auch beleuchtet, geht es hingegen direkt um die Autonomie des Künstlers und seine Abhängigkeit vom Geld. Danh Vo wurde 2015 von einem Rotterdamer Gericht dazu verurteilt, innerhalb eines Jahres ein neues Werk für Kreuk anzufertigen. Es gab damit dem Sammler recht, der behauptet, der Künstler habe ihm eine große Installation versprochen, die eigens für eine von Kreuk kuratierte, mitfinanzierte und mit eigenen Sammlungsbeständen ausgestattete Schau im städtischen Gemeentemuseum in Den Haag hergestellt werden sollte.
Danh Vo habe nicht die vereinbarte Installation geliefert, und so sei es nötig gewesen, die Ausstellung neu zu arrangieren. Kreuk verklagte den Künstler und seine Berliner Galeristin Isabella Bortolozzi auf Schadenersatz – für die angeblich daraus resultierende Rufschädigung und für die Verluste, die er gemacht habe, weil er Kunstwerke veräußert habe, um die Arbeit des Beklagten erwerben zu können. Danh Vo und seine Galeristin bestritten die Vorwürfe. Nach dem Urteil kündigte der Künstler dann die große Installation an, die er dem Sammler versprochen hat - es sollte ein Zitat aus dem Film "Der Exorzist" enthalten: "Shove it up your ass, you faggot!"
Wie frei sind Künstler im Umgang mit Sammlern, die ihre Arbeit finanzieren? "Das Traurige daran ist", bilanzierte Danh Vo, nachdem der Kläger seine Forderung nach einem neuen Kunstwerk fallengelassen hatte, "dass Bert Kreuk und das Urteil Begriffe wie 'groß', 'beeindruckend' und 'raumfüllend' im Zusammenhang mit meiner Arbeit ins Spiel brachte. Diese Begriffe erinnern mich an Macho-Sex-Talk und haben nichts mit mir und meiner Arbeit zu tun."
Auch im dritten Fall handelt es sich nicht um Betrug im engeren Sinne: Vielmehr geht es um den Raub des Van-Gogh-Gemäldes "Der Pfarrgarten in Nuenen im Frühling" und die Ermittlungen des Kunstdetektivs Arthur Brand, der vorführt, wie man durch Einfühlung und Geduld Erfolg haben kann. Das unterscheidet ihn, genauso wie die in der Doku zu Wort kommenden Journalistinnen (neben Kinsella auch die große Georgina Adam), von vielen anderen verbissenen Kunstmarktakteuren und Verbrechern, die hier vorgestellt werden.
Der Film hat eine beeindruckende Menge an Gesprächspartnern vor die Kamera bekommen, fast verheizt er sie in den kurzweiligen 45 Minuten. Dennoch gibt er eine gute Übersicht auf sehr unterschiedliche Arten von kriminellen und ethischen glitches in einer Branche, in der Versprechungen, Erwartungen und Geld so nah beieinander liegen.
"Fürs Geld – Drei spektakuläre Kunstbetrüge", 3sat-Mediathek