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10 Kunst-Filme, die sich im September lohnen

Unsere Filme im September gehen einem Popkultur-Desaster nach, zelebrieren Kunst-Theorie und machen Benedict Cumberbatch zum verschrobenen Katzen-Zeichner 


Ein Mythos wird zum Desaster

Das Musikfestival Woodstock von 1969 ist ein Mythos und gilt als liebestoller Höhepunkt der Hippie-Kultur. 30 Jahre später wollten findige Musikmanager das Erlebnis wiederholen. Doch statt Frieden und Verständnis prägten Chaos, Gewalt und Müllberge die Wiederauflage des Festivals 1999. Die dreiteilige Netflix-Dokumentation "Absolutes Fiasko: Woodstock ‘99" erzählt die traurige Geschichte von profitgierigen Veranstaltern, Missmanagement und einem vernachlässigten, frustrierten Publikum, das eskaliert.

Das Revival des legendären Hippie-Events in Rome, New York, sollte groß werden: Drei Tage mit den Top-Acts des Jahrzehnts. Das Line-Up bestand aus Bands wie Korn, Limp Bizkit und den Red Hot Chili Peppers. Doch ein Scheitern schien vorprogrammiert: Hitze und pralle Sommersonne, ein lückenhaftes Sicherheitssystem, verseuchtes Trinkwasser und Wasserflaschen, die man sich kaum leisten konnte – plus: eine Menschenmenge, die von Drogen, Alkohol und den aggressiven Klängen der Nu-Metal-Bands ohnehin schon aufgewühlt war.

Interviews mit Zeitzeugen und Originalvideoaufnahmen protokollieren in der Serie das Ausmaß des Vandalismus, des Sexismus und letztendlich der Brandstiftung auf dem Festivalgelände. Es schockiert, wie wenig Verantwortung die Organisatoren bis heute übernehmen, trotz ihrer schlechten Planung, den zahlreichen Übergriffen und Vergewaltigungen. Von einem historischen Event sprechen viele der Befragten. Der Film stimmt dem zu, ist in erster Linie aber doch ein trauriges Zeugnis von kapitalistischer Gier, die in einem komplett niedergebrannten und verwüsteten Stück Erde endet.

"Absolutes Fiasko: Woodstock '99", auf Netflix

"Woodstock '99", Filmstill
Foto: Netflix

"Woodstock '99", Filmstill


Vodou trifft katholische Heilige in Kassel

Einer der eindrücklichsten Orte der Documenta Fifteen in Kassel ist die entweihte Kirche St. Kunigundis im Stadtteil Bettenhausen. In dem etwas baufälligen, aber imposanten Sakralbau mit Chor und Empore stellen für die Weltkunstschau Atiz Rezistans | Ghetto Biennale aus Haiti ihre Werke aus. Dabei trifft Vodou-Tradition (nicht die verzerrte Hollywood-Version) auf Schilderungen des Alltags in Porte au Prince und die Überreste der katholischen Ikonografie an den Wänden. 

Zur Eröffnung im Juni fanden dort außerdem Performances statt, die künstlerische Interaktionen und Zustände zwischen Andacht und Ekstase enthielten. Auf dem Youtube-Kanal der Documenta Fifteen sind zwei davon zu sehen. "Ghetto Gucci" ist eine meditative Tanz-Aufführung, die an eine Prozession oder ein heiliges Ritual erinnert. Außerdem markieren Roberto N Peyre und John Cussans in ihrer Performance die Kirche zuerst mit dem Siegel der heiligen Kunigundis, bevor sich der Raum mit Nebel und elektronischer Musik füllt und das Publikum zu tanzen beginnt. Wer es nicht nach Kassel schafft oder die Live-Termine verpasst hat, kann sich so einen Eindruck von der besonderen Aura dieses Ausstellungsortes verschaffen. 

Atiz Rezistans | Ghetto Biennale "Ghetto Gucci" und "Walk The Walk & Talk The Talk", auf Youtube

Atis Rezistans - Ghetto Biennale "Ghetto Gucci", 2022, Documenta Fifteen (Filmstill)
Foto: Documenta Fifteen / Screenshot via Youtube

Atis Rezistans - Ghetto Biennale "Ghetto Gucci", 2022, Documenta Fifteen (Filmstill)


Daniel Libeskind: Architektur und Emotion

Der Architekt Daniel Libeskind ist ein Meister darin, komplexe Ideen in Bauwerke zu verwandeln, die Geschichte und Geschichten verkörpern. Das Fundament von allem ist dabei seine eigene Geschichte, die 1946 mit seiner Geburt als Sohn von Holocaust-Überlebenden in einem jüdischen Ghetto im polnischen Lodz begann. In ein System von "Kommunismus, Autoritarismus", wie Libeskind es kürzlich beschrieb.

In jungen Jahren zog es ihn 1960 in die USA, allerdings nicht der Architektur wegen, sondern durch ein Stipendium zur Förderung seiner musikalischen Begabung, mit der er in Israel auf sich aufmerksam gemacht hatte. Der Musik ist Libeskind bis heute verbunden geblieben, doch sein Leben veränderte sich, als er über die Architektur stolperte, wie er selbst sagt. Lange blieb er theoretisch, zeichnete, baute nicht.

Der Durchbruch kam, als Libeskind Ende der 1980er-Jahre den Zuschlag zum Bau des Jüdischen Museums in Berlin bekam. Er wurde zum international gefeierten Stararchitekten. Seine Gebäude – neben dem Jüdischen Museum und dem World Trade Center unter anderem auch das Royal Ontario Museum in Toronto, das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück und das Zeitgenössische Jüdische Museum in San Francisco – sind voll mit Gedanken, Ideen und Emotionen. Sie nehmen Bezug zur Vergangenheit und blicken in die Zukunft.

Immer wieder kommt Libeskind dabei auf das Konzept Demokratie zurück, die es mit aller Kraft zu verteidigen gelte. Am 12. Mai wird Libeskind 75 Jahre alt. Der Dokumentarfilm "Magier der Emotionen" widmet sich seinem Schaffen und setzt auch seine Liebe zur Musik in den Fokus. So interpretiert der Pianist Benyamin Nuss im Film Auszüge aus Libeskinds Grafiken "Chamberworks" am Klavier – im Dialog mit dem aus New York zugeschalteten Urheber.

"Daniel Libeskind: Magier der Emotionen", Arte-Mediathek, bis 25. November

Foto: dpa
Foto: dpa

Der Architekt Daniel Libeskind 2014 in Zürich


Surrealismus mit Tilda Swinton

Humor, Daseinsangst und tiefe Trauer: Mit dem Spielfilm "Memoria" öffnen Regisseur Apichatpong Weerasethakul und Schauspielerin Tilda Swinton ein gewaltiges emotionales Spektrum. Swinton verkörpert diese seltsame, etwas desorientierte Europäerin, die es nach Bogotá verschlagen hat und die sich auf die Suche nach dem Ursprung eines Geräuschs begibt, das zu spezifisch ist, als dass Jessica das "Bong" als Hirngespinst abtun könnte. "Ich werde verrückt", sagt sie allerdings einmal zu einer Bekannten. Das wäre nichts Besonderes angesichts eines ziemlich verrückten Streifens, des ersten, den der bildende Künstler und Filmemacher Apichatpong Weerasethakul außerhalb seiner thailändischen Heimat gedreht hat.

Die Verrücktheit von "Memoria" besteht nun nicht in einem totalen Delirium aus Bildern und Tönen (wie bei Steven Spielberg, dessen "Unheimliche Begegnung der dritten Art" Weerasethakul an zwei kurzen Stellen zitiert), sondern aus eher nüchternen Schilderungen von Jessicas Suchbewegungen und Begegnungen in einem ihr fremden Kolumbien. Eigenartig wird der Film durch die diskontinuierliche Montage und diverse logische Brüche.

Weerasethakul hält stets eine gewisse Distanz zu Jessica und den anderen Figuren, sein Kameramann Sayombhu Mukdeeprom lässt viel Raum um die Darsteller herum. Die Landschaften und urbanen Schauplätze des Films werden zu Resonanzräumen, in denen wir uns umschauen, in die wir hineinlauschen dürfen. Weerasethakul schafft das Kunststück, sein Publikum in Trance zu versetzen, obgleich er eine ungewöhnliche Transparenz an den Tag legt, was seine filmischen Mitteln und Zutaten angeht. Der Zauberkasten liegt gleichsam offen herum.

Der Streamingdienst Mubi, wo nun auch "Memoria" läuft, hat gerade einen Schwerpunkt auf die Schauspielerin Tilda Swinton im Programm. Dort finden sich auch Filme wie "The Human Voice" und "The Invisible Frame"

"Memoria", auf Mubi 

Tilda Swinton als Jessica und Juan Pablo Urrego als Hernan in einer Szene des Films "Memoria"
Foto: Sandro Kopp/Port au Prince Pictures/dpa

Tilda Swinton als Jessica und Juan Pablo Urrego als Hernan in einer Szene des Films "Memoria"


Über Kunst reden statt Kunst machen

Die Künstlerinnen Nola (Julia Zange), Katja (Katja Weilandt) und Martina (Martina Schöne-Radunski) sind so ziemlich die letzten, die übrig sind. In einer erhabenen, aber heruntergewirtschafteten Altbau-Wohnung hinter dem Berliner Hauptbahnhof warten sie auf ihren bevorstehenden Rausschmiss. Hier ist die Gentrifizierung am Werk, hier entsteht die neue Europa-City. Zwischen abrissbedrohter Kreativromantik und spiegelnden Investorenfassaden entfaltet sich "Der lange Sommer der Theorie", so der Titel des Films von Regisseurin Irene von Alberti.

Nola, Katja und Martina sprechen in sonnengefluteten Kulissen und an weinseligen Abenden geschliffene Sätze über kritisches Denken und politisches Handeln. Alle treibt um, was sie anfangen sollen mit dieser Welt, wie einen Unterschied machen. Getan wird in diesem Film eher wenig, dafür umso mehr philosophiert. Das ist manchmal anstrengend, macht aber den Reiz des Films aus, der als Collage aus fiktionalen und dokumentarischen Szenen daherkommt und zuweilen wie eine nahbare Illustration eines Essays über Kreativität und Widerstand wirkt.

Nola dreht einen Film, in dem sie reale Kulturschaffende zum Nutzen von Theorie für ein gutes Leben interviewt. So geht sie auch mit dem Autor Philipp Felsch spazieren, von dessen Buch über Lesen und Revolte zwischen 1960 und 1990 sich der Film den Namen leiht. Auch Gespräche mit dem Dramaturgen Carl Hegemann und der Philosophin Rahel Jaeggi werden als Elemente des Authentischen eingesetzt. Letztlich ist "Der lange Sommer der Theorie" aber vor allem eine verführerische Abhandlung über Körper in einer Stadt, die Kraft von Worten und die Sehnsucht danach, sich selbst zu fühlen.

"Der lange Sommer der Theorie", auf Mubi

"Der lange Sommer der Theorie", Filmstill, 2017
Foto: Mubi

"Der lange Sommer der Theorie", Filmstill, 2017


Benedict Cumberbatch als verschrobener Katzenzeichner

Als das viktorianische England zu bröckeln begann, gebar es eine sonderbare Fixierung auf Stubentiger. Der Anführer der Bewegung war der Katzenzeichner Louis Wain. Ein Biopic porträtiert ihn als profitunfähigen Kauz ohne Bodenhaftung. Was passieren kann, wenn man trotz Kunststudium Opern schreibt und als Hobby-Naturwissenschaftler die Elektrizität einfangen möchte, zeigt das in verspielt überstilisierten Tableaus schwelgendes Porträt des 1860 geborenen Wain, über den seine zehn Jahre ältere Frau Emily sagte, er sei der erste Mensch gewesen, "der entdeckte, wie töricht, lustig, drollig, verschmust, faul, aber auch klug und lernbegierig Katzen sind". 

Katzengalerien auf Instagram und Twitter? Darüber hätte Wain wohl nur müde geschmunzelt. Mit den anthropomorphisierenden Zeichnungen, Illustrationen, Karikaturen und Comics gelang ihm schon Ende des 19. Jahrhunderts der Durchbruch. Sie machten ihn zu einem gefragten Künstler und sein Leben "happier and catier", wie es in "Die wundersame Welt des Louis Wain" des Regisseurs Will Sharpe heißt. Aus seiner Perspektive gab es kaum etwas, was Katzen den Zweibeinern nicht abschauen konnten. Sie trugen Brille, Zigarre, fuhren Fahrrad und turnten auf Sportgeräten. Wain war mitverantwortlich für einen Hype, der selbst die Oberschicht dazu anstiftete, sich ein miauendes Haustier anzuschaffen. Vielleicht, weil in seiner Zeit technische Erfindungen das Lebenstempo auf noch nie dagewesene Art veränderten?

Die Besetzung Wains mit Benedict Cumberbatch ist zwar etwas vorhersehbar, stört aber auch nicht weiter, da der Außenseiterrollen gewohnte Brite jede Marotte intensiv zu verkörpern weiß, wenn er etwa im Regen Blitzen nachjagt und elektrische Schwingungen zwischen Menschen zu sehen vermag. Die sympathische Schusseligkeit ist es auch, an der sich Regisseur Sharpe in Fantasy-Szenen, gewagten Kamerafahrten und, ja, auch Kitsch-Momenten nicht satt sehen kann. Das will schon etwas heißen bei einer historischen Persönlichkeit, die weder als zeitlose Kultfigur durchgehen kann noch ein Werk hinterlassen hat, das als wegweisend für die Kunstgeschichte gilt.

"Die wundersame Welt des Louis Wain", auf iTunes

 Louis Wain (Benedict Cumberbatch) in einer Szene des Films "Die wundersame Welt des Louis Wain"
Foto: Jaap Buitendijk/Studiocanal GmbH/dpa

Louis Wain (Benedict Cumberbatch) in einer Szene des Films "Die wundersame Welt des Louis Wain"


Animalische Kunstgeschichte 

Der oben erwähnte Katzenzeichner Louis Wain erhält übrigens auch einen Auftritt in 3-Sats neuer Reihe "TierArt. Eine animalische Kunstgeschichte mit Aurel Mertz". Darin nimmt sich der Comedian und offensichtliche Tierfreund Darstellungen von felligen und gefiederten Motiven aus verschiedenen Jahrhunderten vor. Die erste der fünf Folgen rückt die Katze in den Fokus und folgt dem Tier durch die Geschichte von dämonischen Motiven zu Zeiten der Hexenverfolgung über ihre Verkörperung von Weiblichkeit bis zum Symbol der Schönheit in den Bildern Auguste Renoirs und den Katzen-Geistern in den Gemälden des zeitgenössischen Berliner Malers Martin Eder.

Louis Wain, der die Katze zum ersten Mal vermenschlicht hat und sie bei für die Gattung untypischen Aktivitäten wie dem Fahrradfahren darstellte, ist mit seinen Malereien ebenso Bestandteil der knapp 40 Minuten wie die feministische Performancekünstlerin Carolee Schneemann, die das Felltier zur Partnerin machte. Kunsthistorikerinnen, Verhaltensforscher und Katzencoachs geben Auskunft über die wechselseitige Beziehung von Mensch und Tier.

Auch wenn nicht jeder Witz von Moderator Aurel Mertz funktioniert, geht er der Rolle von Hunden, Katzen, Pferden, Vögeln und Spinnen auf eine durchaus unterhaltsame Art auf den Grund. Übersehen wird man die Zwei-, Vier- und Achtbeiner in der Kunst zumindest nicht mehr.

"TierArt. Eine animalische Kunstgeschichte mit Aurel Mertz", auf 3-Sat


Die letzte Reise des Dani Karavan 

Als der israelische Bildhauer Dani Karavan 2021 im Alter von 90 Jahren starb, würdigte ihn die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters als eine der markantesten Künstlerpersönlichkeiten und echten Freund. Weltweit hätten seine Kunstwerke Menschen zum Nachdenken und Hinterfragen angeregt. 

Karavan wurde 1930 als Sohn polnischer Einwanderer in Tel Aviv geboren. Die Familien seiner Eltern verloren viele Verwandte während des Holocausts. Daher ist die Erinnerung an die Shoah ein wichtiges Thema seiner Arbeiten. Karavan lernte zuerst an der Bezalel-Akademie in Jerusalem Zeichenkunst, später studierte er in Florenz und Paris Malerei. 1996 erhielt er den Kaiserring von Goslar.

Aufsehen erregende Kunstwerke hat Dani Karavan in aller Welt geschaffen. Sein Markenzeichen sind begehbare Monumente – etwa der Heinrich-Böll-Platz in Köln oder die "Straße der Menschenrechte" am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Besonders bekannt ist sein 1994 vollendeter Gedenkort "Passagen" im spanischen Portbou. Er erinnert an den deutschen Philosophen Walter Benjamin, der 1940 in der kleinen spanischen Gemeinde an der Grenze zu Frankreich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ums Leben kam. Auch in seiner israelischen Heimat hat Karavan viele monumentale Landschaftskunstwerke geschaffen, darunter das Negev-Brigadedenkmal in Beerscheva und das "Weiße Stadt"-Denkmal in Tel Aviv-Jaffa.

In dem Dokumentarfilm "Die Kunst der Erinnerung" (2021) begibt sich der bereits 90-Jährige auf eine emotionale Reise zu seinen Kunstwerken. Zusammen mit dem Regisseur Barak Heymann reist er unter anderem nach Deutschland, Frankreich, Spanien und Polen. Nicht alle seine Projekte konnte Karavan vor seinem Tod noch beenden, und zuweilen stieß er mit seiner Arbeit auch auf politische Widerstände. In dem Film wird zudem deutlich, dass er langsam sein Gedächtnis verlor. Er selbst wird durch seine Kunst jedoch immer in Erinnerung bleiben.

"Dani Karavan. Die Kunst der Erinnerung", Arte-Mediathek, bis 30. September 

Der israelische Bildhauer Dani Karavan 2013 in Nürnberg
Foto: dpa

Der israelische Bildhauer Dani Karavan 2013 in Nürnberg


Tiere essen?

Unsere Erde ist ein Stall: Über 90 Prozent aller Säugetiere leben auf diesem Planeten, um geschlachtet zu werden. Die Massentierhaltung hat ein Ausmaß angenommen, das die Frage nach dem richtigen Leben schnell bei der richtigen Ernährung landen lässt: Wen dürfen wir essen? So heißt auch eine Dokuserie, in der die Tierhaltung von vielen Seiten betrachtet wird: als wirtschaftspolitische Realität und technische Herausforderung, als ökologische Bedrohung und kulturgeschichtliche Konstante, unter Gesundheitsaspekten und natürlich – darauf weist das Wort "dürfen" im Titel hin – als ethisches Problem. Die Serie lässt einen konventionellen Landwirt zu Wort kommen, eine Sozialwissenschaftlerin, einen Ernähungsexperten, Tierschützer, Philosophen, Chemiker, einen Anthropologen. Diese Multiperspektive sorgt dafür, dass die Doku nie agitatorisch wird, die Schlussfolgerungen kann das Publikum für sich selbst ziehen.

"Wen dürfen wir essen?" setzt auf Interviews, eigene Aufnahmen, Stock-Footage, Animationen und Illustrationen. Diese wilde Mischung macht die Produktion nicht unbedingt zu einem Filmkunstwerk, aber dennoch erzeugt sie eine Leichtigkeit bei einem Thema, bei dem die Fronten sinnlos verhärtet sind.

"Wen dürfen wir essen", Arte-Mediathek, bis 31. Juli 2023

"Wen dürfen wir essen?", 2021, Filmstill
Foto: Arte

"Wen dürfen wir essen?", 2021, Filmstill


Das Klanggewitter des Nick Cave

Ist das eine Doku oder eines von Nick Caves poetisch-experimentellen Sound-Kunstwerken? Die Unterscheidung ist eigentlich auch egal, denn sehenswert ist "This Much I Know To Be True" in jedem Fall. "Es ist nicht mehr rentabel, Tournee-Musiker zu sein", erklärt Cave zu Beginn des Films. Kurz blitzt der Schalk in seinen Augen. "Ich habe den Rat der Regierung angenommen, umzuschulen. Also, sehr zum Entsetzen meines Managements habe ich jetzt eine Umschulung zum Keramiker gemacht." Mit aristokratischem Gestus stellt der Künstler, der mit seinem gestärkten Hemdkragen unter dem weißen Kittel und den zurückgegelten pechschwarzen Haaren ein bisschen nach Graf Schlotterstein oder Mephisto höchstselbst aussieht, seine kleinen Figurinen zur Schau. Es handelt sich um einen Werkzyklus über das Leben des Teufels, von seiner Geburt über die erste Liebe bis zum Tod. Die Geschichte fungiert als Prolog, bevor die Musik einsetzt. Denn natürlich hat Nick Cave das Musizieren in der Pandemie nicht an den Nagel gehängt.

"This Much I Know To Be True" schließt an den Erfolg der Mockumentary "20.000 Days on Earth" und des Konzertfilms "One More Time with Feeling" (2016) von Andrew Dominiks an, der auch hier wieder am Werk war. Mit seiner Tongewalt und stroboskopischen Lichtgewittern, die von Momenten der Kontemplation unterbrochen werden, ist die Produktion ein Schatz im Streaming-Meer.

Der Film zeigt die ersten Performances von Stücken aus den beiden 2021 erschienenen Studioalben "Carnage" (von Nick Cave und seinem Bandkollegen Warren Ellis) und "Ghosteen" (von der Band Nick Cave and the Bad Seeds in Komplettaufstellung). Im Zentrum des Films steht die kreative Zusammenarbeit von Cave und Ellis: Wir begleiten sie beim Jammen, lauschen dazwischen ihren Gesprächen und wohnen einem Besuch der britischen Sängerin Marianne Faithfull bei. Nick Cave liest aus Fan-Briefen vor, die selbst wie Gedichte klingen. Zwischendurch scheint sein ironischer Humor hervor, dann wieder Schatten der Melancholie.

Es ist schon wahr, mit Plattenverkäufen allein lässt sich heute nur noch schwer die Miete zahlen. Wie schön, dass Nick Caves Antwort darauf keine NFT-Edition sondern dieses Meisterwerk für Augen und Ohren ist.

"This Much I Know To Be True", auf Mubi