Er heiratete eine Nonne, hinterfragte gewachsene Strukturen und Autoritäten, trat für Gewissensfreiheit ein – auch gegenüber dem Papst. Unbequem, ehrlich, grenzüberschreitend, das war Martin Luther (1483–1546). Seiner Zeit voraus, ebnete er der Individualisierung den Weg, seine Forderung nach einer grundlegenden Reform der Kirche führte zu ihrer Spaltung, seine Übersetzung der Bibel trug wesentlich zur Alphabetisierung bei. Kurz: Luther war Avantgarde. So die Überzeugung von Walter Smerling, der als Vorstandsvorsitzender der Stiftung für Kunst und Kultur e. V. anlässlich des Reformationsjubiläums die Idee zur Ausstellung "Luther und die Avantgarde" entwickelte, die im Mai in Wittenberg eröffnet.
Zentral ist dabei weniger eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Person und Zeit Luthers – Grundanliegen der Ausstellung ist von seiner Person ausgehend vielmehr eine Befragung der Rolle, die Künstler heute haben: "Luther hat die Welt verändert – und auch die heutige Welt durchlebt zahlreiche Krisen, Umbrüche und gesellschaftliche Veränderungen", heißt es im Einladungsschreiben, dem insgesamt 68 Künstler gefolgt sind. "Welche Antworten geben Sie auf aktuelle Fragen, die die Welt beschäftigen? Was verändern Sie in Ihrem künstlerischen Schaffen? Wollen Sie überhaupt etwas verändern?"
Antworten kommen von prominenten Künstlern wie Ai Weiwei, Christian Boltanski, Maurizio Cattelan, Isa Genzken, Antje Majewski, Gregor Schneider oder Andreas Slominski – mehr als die Hälfte der Arbeiten wurde für die Ausstellung produziert. Zhang Huan sammelte Asche, die beim Betvorgang von Buddhisten abfällt, und malte damit das Abendmahl – ein religiöser Dialog auf der Leinwand. Ai Weiwei ist indirekt dauerpräsent – als Negativabdruck in einem Betonblock.
Neu ist auch der Ort der Auseinandersetzung: Ein ehemaliges Gefängnis wird derzeit in Wittenberg als Ausstellungsraum hergerichtet, den meisten Künstlern dient je eine Gefängniszelle als White Cube im Miniformat. Jonathan Meese wird in seiner Zelle mit der Grundausstattung Tisch, Bett und grüner Wandfarbe arbeiten und mit Bildern, Plakaten und auf Monitoren ein Manifest über den Teufel gestalten. "Der Ort steht kontrafaktisch zum Thema", erklärt Walter Smerling, der gemeinsam mit Kay Heymer (Stiftung Museum Kunstpalast Düsseldorf), Susanne Kleine (Bundeskunsthalle Bonn), Dimitri Ozerkov (State Herimitage Museum St. Petersburg), Peter Weibel (MKM Duisburg) und Dan Xu (Stiftung Kunst und Kultur e. V.) die Künstlerliste bestückte. Luther wiederum verbrachte mehrere Jahre in einem vergleichbaren Setting – als Mönch in der Klosterzelle.
Auch der Wiener Erwin Wurm folgte der Einladung. Zur Diskussion stellt er zwei Ideen: Zum einen interessieren ihn Banken als neue Gotteshäuser. Zum anderen plante er schon länger einen überdimensionalen Boxhandschuh, der nun mit einer Höhe von 1,46 Metern in Wittenberg platziert wird. Nahezu menschlich kommt der Bronzeguss daher. Wurm interessiert der Kampf gegen Dogmen, der – vielleicht gar aussichtslose – Kampf gegen vorgefertigte Meinungen: "Dogmen prägen unsere Gesellschaft nach wie vor sehr stark, genauso wie sie es zu Luthers Zeiten getan haben", so Wurm. Seinen Boxhandschuh versteht er auch als Aufruf, sich dem Status quo nicht zu unterwerfen, Festgefahrenes aufzubrechen. Dass seine Arbeit, die Assoziationen zu blutigen Kämpfen zwischen Männern hervorruft, nun ausgerechnet im Hof des Gefängnisses platziert werden soll, ist jedoch weniger eine Anspielung auf die Vergangenheit dieses besonderen Ausstellungsortes, sondern einer pragmatischen Entscheidung geschuldet: Durch die Zellentür hätte der Handschuh schlicht nicht gepasst.