Sammlungspräsentation in Wolfsburg

Wahlverwandtschaften

Ziemlich trist erscheint die Stadt Wolfsburg, bahnt man sich seinen Weg durch die von Leerstand gezeichnete Haupteinkaufsstraße, die den Hauptbahnhof mit dem Kunstmuseum verbindet. Als das Kunstmuseum Wolfsburg vor zwanzig Jahren eröffnete, war einzig darauf Verlass, dass das Geld in der VW-Stadt fließen würde. Ansonsten schien dem Kunstbau ein ähnliches Schattendasein gewiss wie so manchen Renommierbauten außerhalb der großen Städte. Nur kam eben alles ganz anders. Was sich nicht zuletzt der umtriebigen Sammeltätigkeit des Gründungsdirektors Gijs van Tuyl sowie dessen kürzlich verstorbenem Nachfolger Markus Brüderlin verdankt.

Sammelte van Tuyl zunächst zeitgenössische Positionen wie Damien Hirst, Elizabeth Peyton  und Neo Rauch, setzte das Ausstellungsprogramm seines Nachfolgers Brüderlin seit 2006 weniger Gespür auf Zeitgeist. Er richtete seinen Blick eher auf das Alte im Neuen, auf tradierte Formensprache in aktueller Kunst. Jetzt feiert das Museum 20-jähriges Bestehen und begibt sich auf eine sinnliche und wissenschaftliche Forschungsreise. Unter dem Motto „Spuren der Moderne“ stellt sich das Haus die Frage, welche Fäden sich von zeitgenössischer Kunst zu den ästhetischen Ideen der Avantgarde ziehen lassen. Wie wird diese Epoche in Werken von Künstlern wie Thomas Schütte, Cindy Sherman, Tobias Rehberger, Andreas Gursky oder Olafur Eliasson heute aufgegriffen? Und welche Spuren hat eigentlich Brüderlins Vorgänger van Tuyl im Sammlungsprogramm hinterlassen?

Mit dem Querschnitt moderner Kunst sollte die kulturelle Identität der erst 1938 gegründeten Stadt ohne Tradition gestärkt werden. Van Tuyl suchte nicht nach einem Konsens. Sein Konzept: eine Sammlung, die keine stilistische Gesamtheit bildet, sondern radikale zeitgenössische Positionen zeigt (etwa Bruce Naumans mediale Hölle mit engen Korridoren, flackernden Irrlichtern und giftigen Neonschriften).

Unter der Leitung Brüderlins wurde in entgegengesetzte Richtung gedacht: die Moderne als ästhetisches Suchprogramm, das in Zeiten fehlender Kategorien als Ideenlieferant dient. Das zeigt sich in der Ausstellung: Kunstrichtungen werden neu verhandelt, wie beispielsweise mit dem Werk „Regeln“ von Neo Rauch, das Verwandtschaft zum Surrealismus erkennen lässt. James Turrells Lichtinstallationen erinnern an die Farbfeldmalerei, die das Materielle mit dem Immateriellen in Beziehung setzt. Er formt Licht so, dass man seine Präsenz fühlen kann. Und wie Mark Rothko die Farbe von der Leinwand befreite sie spürbar im Raum schwebt , so verhält sich das Licht bei Turrell.

Doch schlägt sich die ästhetische Suche auch in den technologischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts nieder, die sich in den Werken des Medienpioniers Nam June Paik zeigen. Mit dem „Andy Warhol Robot“ von 1994 wird der Flirt des Pop-Art-Künstlers mit den Medien ad absurdum geführt. Und Tony Craggs Palette von 1982 aus bemaltem Holz, Plastik, Teppich und Papier zieht seine Fäden zum Konstruktivismus á la Malewitsch.

Mit der Sammlungspräsentation „Spuren der Moderne“ wird eine dezidierte Auswahl an wichtigen Positionen gezeigt, die die Wahlverwandtschaften zwischen Epochen zusammenfasst. Mit dem Ausstellungskonzept knüpft das Museum an das seit 2006 bestehende Programm „Suche nach der Moderne im 21. Jahrhundert“ und Ausstellungen wie „Kunst der Entschleunigung“ (2011/12), „Kunst & Textil“ (2013/14) oder „Interieur/Exterieur“ (2008) an.

Die Nachwirkungen der Moderne im Zeitgenössischen haben zuvor auch schon die Großausstellungen wie Documenta 12 und 5. Berlin Biennale freigelegt. Doch die ausgestellten Werke sind nicht allein zeitgenössischer Rebus für avantgardistische Referenzen. Nicht nur Kunst reagiert auf Kunst, sondern auch Direktor auf Direktor.

Brüderlin versuchte nicht das festzuhalten, was nicht mehr zu greifen ist, sondern kunsthistorische Verankerungen im Vergangenen zu suchen, das Kunst in einem historischen Gefüge festigt und überleben lässt. Brüderlin arbeitete aus dem Bestand heraus, den van Tuyl ihm hinterlassen hat, und bemühte sich erst gar nicht, zeitgenössische Kunst in ein ästhetisches Korsett zu zwängen. Das zeitgeistige Gespür van Tuyls und der inhaltliche Ansatz Brüderlins, zeitgenössische Kunst in komplexen Sinnzusammenhängen zu lesen, ist in Wolfsburgs künstlerischer kuratorischer Vision gelungen.

Kunstmuseum Wolfsburg, bis 19. Oktober