Künstler beerdigt europäische Werte

Tot oder lebendig?

Europa ist nicht mehr so einig, nicht mehr so sicher und nicht mehr so solidarisch wie früher. Das will der Niederländer Dries Verhoeven bei der Wiesbaden Biennale thematisieren. Dazu lädt er in eine Kirche ein, das Publikum soll schwarz gekleidet und mit Blumen kommen

Wird es die Sicherheit sein? Oder die Solidarität? Dries Verhoeven will nicht verraten, was genau er nächsten Monat in Wiesbaden beerdigen will. Sicher ist: Es handelt sich um einen europäischen Wert oder eine Idee, die nach Einschätzung des niederländischen Künstlers nicht mehr allzu lebendig ist. Der 40-Jährige plant während des Theaterfestivals Wiesbaden Biennale (25. August bis 4. September) ein Happening in einer Kirche.

An zehn Abenden soll es dort einen Trauergottesdienst nach katholischer Liturgie geben, mit trauernden Familienangehörigen, Gebeten, Liedern zum Mitsingen und mit Orgelbegleitung - und einem Sarg, der schließlich mit einem Leichenwagen in einer Prozession zu einem Grab gebracht werden soll. Die Trauergäste sind aufgerufen, schwarze Kleidung zu tragen. Auch Blumenschmuck oder Kränze seien willkommen, sagt Verhoeven. Anschließend lädt er zum Leichenschmaus.

"Es geht darum, die Frage zu stellen, ob die Werte lebendig sind oder tot", erklärt der 40-Jährige. Morgens bei der Zeitungslektüre könne man meinen, die Welt stehe kurz vor dem Untergang, Werteverfall allerorten. Doch ist das tatsächlich so? Ist es Zeit, sich feierlich von alt hergebrachten Werten und Ideen zu verabschieden? Diese Frage will Verhoeven gemeinsam mit dem Publikum erörtern. Dabei soll es "so feierlich und seriös wie möglich zugehen". Der Künstler sagt, er sei als Kind Ministrant gewesen und kenne den Ablauf von Gottesdiensten deshalb genau.

Das Festival im August will die Widersprüche des modernen Europas thematisieren. Eingeladen wurden Künstler, "die einen spannenden Blick auf die Frage haben, was Europa ist und was europäische Identität ist", sagt Kuratorin Maria Magdalena Ludwig. Dazu gehöre auch die Frage nach gemeinsamen Werten und inwieweit diese überhaupt noch existierten. Beispielsweise für Jugendliche in Griechenland, wo die soziale Gerechtigkeit immer mehr infrage gestellt ist.

Verhoeven hat sich ausgerechnet eine anglikanische Kirche mit ihren Wurzeln in England als Ort des Trauergottesdienstes ausgesucht. Der Pfarrer habe sich gefreut, da er hoffe, dass die Kirche wieder einmal viele, viele Besucher haben werde, sagt Verhoeven. Großbritannien hatte erst kürzlich in einem Referendum für den Brexit gestimmt.

Für manche frühere Happenings war Verhoeven harsch kritisiert worden, etwa, als er 2014 eine augenscheinlich hochschwangere 15-Jährige in der Hamburger Innenstadt in einer Vitrine ausstellte - um zu thematisieren, dass Frauen in westlichen Gesellschaften immer später ihr erstes Kind zur Welt bringen. Kurz darauf tauchten Zweifel auf, ob die Jugendliche überhaupt schwanger war.

Im gleichen Jahr wurde eine Aktion Verhoevens in Berlin vorzeitig beendet, bei der er in einem Pavillon über eine Dating-App für Homosexuelle mit Nutzern aus der Umgebung chattete und die Unterhaltungen aus dem Internet an eine Wand projizierte, die Nutzer dabei aber nicht ausreichend anonymisierte.

Mit Kritik, etwa von Seite der Kirche, rechnen die Wiesbadener Kuratoren nicht. "Vielleicht sagt der eine oder andere Pfarrer, so etwas wollten wir bei uns nicht haben", sagt Kuratorin Ludewig. Doch der Pfarrer der anglikanischen Kirche sei ja einverstanden. Verhoeven hat das gleiche Projekt schon im niederländischen Utrecht veranstaltet, damals seien es von Beerdigung zu Beerdigung mehr Menschen geworden. "Am Ende hatten wir nicht mehr genug Stühle", sagt er.