Susan Hiller in der Tate Britain

Surreale Erbsenzählerin

Susan Hiller seziert die Dinge. Leinwände werden Fäden, Wochen werden Tage, Erinnerungen werden Vitrinen voller Memorabilien. Die Künstlerin zerlegt alles in seine Einzelteile, so, als wollte sie sich einen Überblick verschaffen, die Summe der einzelnen Teile verstehen, um von dort aus etwas entstehen zu lassen, das sich von bestehenden Kontexten komplett befreit.

Im ersten Raum der Retrospektive in der Londoner Tate Britain steht man vor unzähligen Leinwänden, zerlegt in kleine Flächen und penibel aufeinandergestapelt wie Dokumente bei der Stadtverwaltung. An den Rändern dieser reizvollen bürokratischen Skulpturen lugen die Ölfarben hervor wie archivierte Emotionen.

Einen noch konsequenteren Schritt geht die 70-jährige Londonerin in „Work in Progress“ (1980), indem sie die Leinwände bis zu den Jutefäden aufribbelt und von diesem Nullpunkt aus neue Objekte kreiert. Hiller, in Florida geboren, hat sich stets als feministische Künstlerin definiert, und diese Arbeit wirkt fast wie ein böses, stereotypes Porträt der Hausfrau: Aus dekonstruierten Leinwänden werden ordentliche Flechtarbeiten, Knäuel und knitterfreie Vorhänge.

Diese Arbeiten entblößen in ihrem freien Spiel mit Symbolik und Material auch die surrealistischen Züge in Hillers Werk. Mit Praktiken wie der écriture automatique wagte sie sich ab den 70er-Jahren an eine konzeptuelle Praxis heran, die unter ihren Zeitgenossen absolut aus der Mode geraten war. Surrealismus war uncool. Das reizte Hiller. Die Ausstellung mit Videos, Installationen, Skulptur und Zeichnungen zeigt, was wenigen Künstler gelingt: über einen langen Zeitraum gute Kunst zu produzieren.

Vielleicht liegt es an Hillers Angst vor dem ewigen „Hit“, den Galeristen und Sammler immer wieder sehen wollen. So arbeitet sie seit vier Jahrzehnten in einem beneidenswerten Zwischenraum, begehrt genug für große Einzelschauen, doch nie ein Künstlersuperstar.

Hiller studierte Anthropologie, und es ärgert sie, dass stets in ihrem Werk danach gesucht wird. Das habe man bei Männern wie Anselm Kiefer (Jura) schließlich auch nie getan. Zwar erinnern ihre Materialsammlungen formal entfernt an empirische Studien, doch steckt Hillers irritierender Bruch gerade in der einzigartigen Auswertung ihres Materials. Dann, wenn sie Postkarten britischer Küstenorte archiviert und den unbekannten Künstlern in Form erbsenzählerisch anmutender Bestandslisten eine späte, surreale Hommage widmet.

Tate Britain, London, bis 15. Mai. Neue Arbeiten von Susan Hiller: Timothy Taylor Gallery, London, bis 5. März