Eine Party, eine Gerichtsverhandlung, eine Schule, eine Polizeistation und ein Gefängnis: Diese Schauplätze ergeben zusammen den fünfteiligen Kosmos von "Small Axe" - dem kinematografischen Flügelaltar von Regisseur und Künstler Steve McQueen. Die BBC-Serie thematisiert die Geschichte der afrokaribischen Community in Großbritannien. Der Titel ist dabei zugleich zentrales Motiv und musikalische Anspielung. Die "Small Axe" wurde vor 50 Jahren von Bob Marley besungen: "If you are the big tree, we are the small axe, ready to cut you down". McQueen greift den Kampf der kleinen Axt gegen den großen Baum auf und entwirft in fünf Filmen ein mitreißendes Panorama der Schwarzen Gemeinschaften im London der 1960er- bis 80er-Jahre. Der Künstler erzählt Geschichten über Rassismus und Aktivismus, über Unterdrückung und Befreiung.
McQueen selbst kam 1969 in Großbritannien zur Welt. Seine Eltern waren Teil der "Windrush-Generation", die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Einladung des Vereinigten Königreichs aus den damaligen Kolonien in der Karibik ins Land kam, um beim Wiederaufbau zu helfen. Zwischen 1948 und 1971 bildeten sich große afrokaribische Communities, die aber nicht nennenswert integriert wurden und auf tief verankerten Rassismus stießen. McQueen studierte Kunst in London und New York, erhielt 1999 den renommierten Turner Prize. In den Folgejahren drehte er Filme wie "Widows" und "Shame" und gewann 2013 für sein Werk "12 Years A Slave" als erster Schwarze Regisseur einen Oscar für den besten Film. Anfang 2020 wurde er mit einer großen Ausstellung in der Londoner Tate gewürdigt.
"Small Axe" beginnt ein Jahr vor McQueens Geburt. 1968 hielt der britische Politiker Enoch Powell seine sogenannte "Rivers of Blood"-Rede, in der er sich gegen die Integration von Migrantinnen und Migranten und gegen die bisherige Einwanderungspolitik aussprach. An diese offen geäußerte Xenophobie schließt "Small Axe" an; und entfaltet Folge für Folge Erzählungen über die britische Gesellschaft.
Der Film "Education" beginnt mit der Geburt eines neuen Sterns. Der junge Kingsley sitzt in einem Planetarium und schaut mit seinen Mitschülerinnen begeistert eine Dokumentation über "unsere Heimat" - den Andromedanebel. Es ist das Jahr 1971 und Kingsley wird zu Beginn des Films auf eine Sonderschule geschickt. Der Euphemismus der "speziellen" Förderung entpuppt sich als rassistische Bildungspraxis. In den 1970er-Jahren wurden Schwarze Kinder gezielt aus dem Bildungssystem aussortiert und auf schlechtere Schulen geschickt. Durch die Arbeit des Black Education Movement erfährt Kingsleys Mutter Agnes von der britischen Bildungs-Segregations-Politik. Als ihr der erfahrene Rassismus bewusst wird, beginnt Agnes Chancengleichheit für ihren Sohn einzufordern: "ein nukleares Herz beginnt zu schlagen". Dieses Herz - der symbolisierte Black Pride - fungiert in McQueens Filmen als antirassistische Gegenerzählung.
Die Forderung nach mehr Selbstvertrauen in der Community wurde in den 1960er-Jahren aktivistisch und künstlerisch formuliert. Der Musiker James Brown besang 1968 - im Jahr der rassistischen Rede von Powell - in seinem Song “Say it Loud - I’m Black And I’m Proud” ein Umdenken: raus aus der passiven Opferrolle, hinein in die Position der aktiv Handelnden. In diesem Ermächtigungsprozess spielen auch die Bewusstwerdung der eigenen Geschichte und die kulturelle Bildung eine zentrale Rolle. Denn wie die Aktivistin Paula Gunn Allen 1988 schrieb: "Der Verlust der Erinnerung ist der Ursprung der Unterdrückung".
"Das ist, was sie uns glauben lassen wollen"
Kingsley besucht am Ende des Films eine Sonntagsschule für Schwarze Kinder. Neben herkömmlichen Schulfächern steht hier auch die afrikanische Geschichte auf dem Lehrplan. Auf Nachfrage der Lehrerin, was die Kinder über ihre eigene Geschichte wissen, nennt ein Mädchen die Versklavung der afrikanischen Bevölkerung. "Das ist, was sie uns glauben lassen wollen", entgegnet die Lehrerin. In McQueens Werk ist die Historie des afrikanischen Kontinents immer wieder in Erzählungen, Bildern oder Anekdoten präsent, und die Figuren agieren zunehmend selbstbewusst: als Vertreterinnen einer Kultur, die der weißen europäischen ebenbürtig ist.
Dass die Bildung nicht bloß zu neuem Selbstwertgefühl führen, sondern auch darüber hinaus wirken kann, zeigt die Episode "Alex Wheatle". Der gleichnamige Protagonist gerät 1981 als Jugendlicher nach Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton für vier Monate ins Gefängnis und erzählt seinem Zellengenossen Simeon die Geschichte seiner "falscher Abzweigungen". Simeon ermutigt ihn, sich nicht als Opfer seiner Umstände zu betrachten, sondern fordert ihn zum Lesen und zum Lernen auf, um selbst eine Stimme zu bekommen.
Das von Simeon gepredigte Mantra der Ermächtigung zieht sich durch alle Filme der Reihe, aber Aletheia Jones bringt es in der Folge "Mangrove" treffend auf den Punkt: "Wir dürfen keine Opfer, sondern müssen Protagonisten unserer eigenen Geschichten sein", sagt sie während des Prozess der "Mangrove 9". Die neun Aktivistinnen und Aktivisten protestieren 1970 gegen die anhaltende Polizeigewalt im Restaurant Mangrove in Notting Hill, wurden festgenommen und wegen angeblicher der Gewalt gegen Polizeibeamte angeklagt. Nach dem erlebten Rassismus im Verwaltungsapparat verteidigen sie sich selbst vor Gericht und fordern ihre Rechte ein.
"Ich liebe es, weil das genau das ist, worum sich Small Axe dreht" erzählt Steve McQueen im BBC-Interview. Es gehe darum, das System mit den "small acts" - die manchmal gar nicht so klein sind - zu ändern und für sich und seine Gemeinschaft einzustehen.
Das System von innen verändern will auch Leroy Logan in der Folge "Red, White and Blue", der sich bei der Metropolitan Police bewirbt. Neben der Ausgrenzung durch seine Kollegen trifft er auch in seiner eigenen Familie auf Unverständnis. Denn ein Schwarzer der zur Polizei geht, ist nach "Babylon" übergelaufen, wie die White Supremacy in der Schwarzen Gemeinschaft genannt wird. Die antike Stadt im heutigen Irak steht in der Musik sinnbildlich für einen Ort der Versklavung und des Exils und wurde als Motiv im Reggae besonders durch den Song "Babylon System" von Bob Marley bekannt.
Reggae, Blues und Funk als Teil des kulturellen Selbstverständnisses sind in allen Folgen von "Small Axe" präsent. Selbst das Logo der Serie trägt musikgeschichtliche Bedeutung. Es ist an den Trojanerhelm angelehnt, der seit 1967 das Logo des britischen Reggae-Labels Trojan Records schmückt. Dieses war wegbereitend für den weltweiten Erfolg der Reggae-Musik. Hier erschien auch 1971 die erste Version von Marleys Song "Small Axe".
In der Folge "Lovers Rock", die als einzige komplett fiktiv ist, geht McQueen aber noch einen Schritt weiter. Die Musik ist nicht nur Stilmittel, sondern zentrales Element. Der Lovers Rock bezeichnet eine romantische Form des Reggae und ist passenderweise titelgebend für die Episode, die von einer Blues-Party in Notting Hill handelt. Das Zentrum ist die Tanzfläche, auf der alle Handlungsstränge und Gefühle wie Liebe, Eifersucht und Trauer stattfinden werden. Weil die britische Regierung Anfang der 1980er-Jahre eine Reihe "Black Clubs" schließen ließ, begann eine Ära der Hausparties in London, die direkt in Steve McQueens Teenager-Jahre fiel. Dieser Film sei eine Hommage an seine Jugend - und das Musical, das er immer machen wollten, so der Regisseur zur BBC.
Eine riesige Leerstelle
Tatsächlich sind die Filme kunstvoll inszeniert wie ein musikalisches Bühnenstück. Steve McQueen spannt ein Netz aus kulturellen Referenzen und Anspielungen, die auf den ersten Blick für ein Publikum außerhalb der Community "fremd" wirken können. Die Autorin Kübra Gümüşay schrieb in ihrem Buch "Sprache und Sein" von ihrer Verwirrung, als sie den Film "Moonlight" über einen schwulen Schwarzen Mann in den USA sah: "Mir fehlten Wissen, Referenzen und Kontext - ich bin weder Schwarz noch homosexuell noch ein Mann, und ich lebe nicht in den USA." Warum können wir uns nicht in die kulturellen Codes eines Schwarzen Mannes, wohl aber in das eines beliebigen weißen Mannes hineinversetzen?", fragt Gümüşay. Die Antwort deute auf eine riesige Leerstelle und das verinnerlichte weiße Referenzsystem der Filmindustrie hin. Trotz alledem habe sie den Film sehr genossen, weil er ihr so viel gezeigt habe, was sie noch nicht verstehe.
Die zahlreichen Anspielungen in McQueens Werk werden nicht aufgeklärt. Aber schließlich sind die Filme sind alle keine Dokumentationen. Sie nennen kaum Daten, Zahlen, Fakten und gleichen in ihrem konsequenten Symbolismus eher einem mittelalterlichen Altarbild. Umso schöner ist es, wenn sich durch das Ineinandergreifen der Filme die ein oder andere kulturelle Referenz erschließt, wenn das Publikum lernen kann und der afrokaribische Slang immer verständlicher wird. Denn genau diese Verflechtungen der Filme - der Einzelteile des pentaptychons - machen den Flair von "Small Axe" aus.
Aber das komplexe Kunstwerk prangert auch bestehende Missstände in der britischen Gesellschaft an. Die Motivation für das Projekt zog McQueen nach eigener Aussage aus dem "Windrush-Skandal" von 2018, als die britische Regierung Menschen, die seit Jahrzehnten in England leben, ihres Aufenthaltsrechts berauben wollte. Auch rassistische Polizeigewalt ist kein Problem des letzten Jahrhunderts, wie der Tod von George Floyd, dem McQueen die Serie gewidmet hat, gezeigt hat. Und so sind die Filme in Kombination mit dem Zeitgeschehen gedacht weniger ein Schwelgen in Nostalgie, als eine aktivistische Warnung, gerufen nach Babylon: "We are the small axe, Ready to cut you down".