Wenn alternde Kämpfer an der Nachtlebenfront merken, wie die Nachfolge-Generation sie aus den Clubs spült – Musik hört, zu der sie nicht mehr tanzen können, Drogen nimmt, mit denen sie nicht mehr klarkommen, Botschaften verbreitet, auf die sie nicht mehr setzen wollen –, wird die Vergangenheit immer größer. Dann heißt es: Früher war alles besser, Punk ist tot, Rave is over.
Die Veteranen bleiben schließlich zu Hause, stehen früh auf, verfassen Erinnerungstexte, sortieren Fotos. Und manche haben die publizistische Macht, ihre Sicht auf damals zu veröffentlichen. Voriges Jahr legten Felix Denk und Sven von Thülen den „Klang der Familie“ vor, eine oral history über Techno und Mauerfall. Um den „Sound der Wende“ geht es auch in Ulrich Gutmairs „Die ersten Tage von Berlin“, Anfang August erschienen. Und jetzt folgen noch mehr Bände, die von gestern erzählen.
Der Fotograf Martin Eberle erinnert mit einem Buch an die natürlich „legendäre“ Galerie Berlintokyo, die er mit betrieb. Von 1996 bis 1999 gab es diesen Ort, und er war als Bar und Club viel interessanter denn als Ausstellungsraum. Auf Eberles Fotos ist die Kunst nur Nebensache, die Menschen sind alles. Musiker, Künstler, Filmemacher, spätere Entrepreneure und Gastronomen des Bezirks Mitte stiegen in die stickigen Räume am Hackeschen Markt hinunter, wärmten sich am Feuer der Postironie, die in Konzertform ohrenbetäubend laut sein konnte.
Man ging weder zu Cos noch zu Andreas Murkudis, um sich einzukleiden, sondern in die Garage oder andere Secondhand-Muffläden; an den Polyesterhemden hing noch der historische Schweiß sozialistischer Arbeit. Facebook? Gab es nicht. Handys? Klobige Dinger, die nicht in die Hosentasche passten. Das erweiterte Wochenende plante man mithilfe von Flyern, und wenn man am Ende einer Nacht nicht die Nummern ausgetauscht hatte, dann war die aufkeimende Liebesgeschichte schon vorbei. Im Internet war kaum jemand zu finden. Wahrscheinlich ging man auch deshalb immer an dieselben Orte: um Leute wiederzusehen. Auf den Bildern, die jetzt veröffentlicht werden, sind jedenfalls immer dieselben Menschen drauf.
Das Feiervolk organisierte sich mehr als heute, wo soziale Netzwerke für mehr Durchlässigkeit sorgen, in Cliquen und Orten. Ihre Geschichten erzählt der Band „Nachtleben Berlin. 1974 bis heute“, der im neuen Metrolit Verlag erscheint. Ausgehhelden wie Claudia Skoda, Gudrun Gut oder Jürgen Laarmann, Dichter wie Joachim Sartorius, Bernd Cailloux oder Airen berichten vom Dschungel, Exil, Berghain oder von der Paris Bar.
In diesen Berichten fällt auf, dass es nicht unbedingt die Berliner selbst sind, die nachts Geschichte schreiben, sondern die Zugezogenen, deren Prototypen sich auf immer und ewig in David Bowie und Iggy Pop verkörpern. Mitte der 70er kamen die beiden Popstars nach Westberlin. Esther Friedman wurde damals die Freundin von Iggy und – welch ein Glücksfall! – dokumentierte als Fotografin seine Touren um die Welt und sein Exil in der Frontstadt, die in den bislang unveröffentlichten privaten und lustigen Aufnahmen, die jetzt in dem Band „The Passenger“ zu sehen sind, gar nicht so düster wirkt, wie sich das Nachgeborene immer vorstellen.
Bei all diesen Zeitzeugnissen kommt man um einen Damals-jetzt-Abgleich nicht herum. Die Innenstadt ist heute viel langweiliger, aber natürlich feiern die Leute längst einfach ein paar S-Bahn-Stationen weiter östlich. Doch nicht allein durch die bösen Investoren hat das Nachtleben an großstädtischer Dreckigkeit verloren, sondern auch durch den Selbstdarstellungsimperativ der sozialen Netzwerke und durch die Gestalt des unpolitischen, retromanischen Hipsters. Der geht ohnehin lieber zu Vernissagen.
Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl, Heiko Zwirner (Hrsg.): „Nachtleben Berlin – 1974 bis heute“. Metrolit Verlag, 304 Seiten, 36 Euro, ab 4. Oktober. Martin Eberle: „galerie berlintokyo“. Drittel Books, 76 Seiten, 28 Euro. Stefan Weil, Daniel Haaksmann, Esther Friedman: „The Passenger: Iggy Pop 1977–1983“. Knesebeck Verlag, 176 Seiten, 39,95 Euro, ab 7. Oktober
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 10/2013. Sie können das Heft hier bestellen.