Mit einem signierten Gratis-Kunstdruck lockten die Pet Shop Boys ihre kunstsinnigen Fans zur Vorbestellung des neuen Albums direkt von der Website. Ohne die Unterschriften wären die dunklen Gestalten auf dem Coverfoto von "Hotspot" wohl auch nicht zu erkennen: Das dynamisch in der Vertikalen verwischte, fast schwarz-weiße Porträt könnte auch ein unechter "Gerhard Richter" aus dem Donnersmarck-Film "Werk ohne Autor" sein.
Leider wurde die Bonus-Aktion vorzeitig abgebrochen. Die Musiker, die ihre Werke seit 2013 selbst verlegen, waren des Ansturms nicht Herr und des Signierens müde geworden. Sicher ein gutes Zeichen. Möchten wir, dass die Wahl-Berliner, die gerne unerkannt per Linie 1 die Stadt durchqueren, zu passionierten Autogrammschreibern verkommen?
Eine Option immerhin gibt es noch, um mit ihrem 13. Album etwas Besonderes in die Hände zu bekommen: Man kann es auch als Audiokassette kaufen – erstmals seit dem Release von "Release" im Jahre 2002 gibt es so etwas wieder. Meinen alten Radiorekorder habe ich schon länger nicht mehr benutzt. Alles scheint zu funktionieren. Das noch von Glühlämpchen beleuchtete Audiometer lässt die zarte Nadel erwartungsvoll erzittern wie ein Spinnenbein.
Eine nagelneue Kassette ist ein faszinierender Anblick
Solche Schönheit kennt die digitale Welt nicht mehr. Aber sie kennt auch keine Keilriemen. Zehn Minuten hält das Kassettenteil noch tapfer durch, um dann der von niemandem so eindringlich besungenen Endlichkeit aller Ekstase nachzugeben. Aber selbst wenn dann doch wieder ein Stream herhalten muss, um ihren Inhalt zu hören, ist diese nagelneue Musikkassette schon ein faszinierender Anblick. Welch herrliche Dekadenz liegt in diesem Stück Plastik, das doch ein so viel radikaleres Bekenntnis zur anlogen Welt darstellt als Vinylplatten. Die bieten ja in ihrer Klangqualität einen reellen Mehrwert, während bespielte MCs schon immer als minderwertig galten. Zuletzt war es noch das Medium von Benjamin Blümchen. Wenn überhaupt.
Doch schon der Eröffnungssong mit seinen gedämpften Höhen ist wie für das Medium gemacht: Szenische Keyboardklänge wie von Harald Faltermeyer vertonen die Geschichte einer geisterhaften Begegnung in der Berliner Hochbahn, inspiriert von Christopher Isherwood, dem britischen Chronisten der Weimarer Dekadenz. Nach dem Krieg kehrte er noch einmal in die Stadt zurück, die ihn so glücklich machte und die er vor allem mit sexueller Befreiung verband. Aus der Perspektive des alternden Flaneurs erzählt der Song vom zufälligen Wiedersehen mit einem früheren Liebhaber, der das lyrische Ich freilich nicht mehr erkennen will. "You were always such a free spirit/ Are you getting bored?"
Es ist ein großer Pet-Shop-Boys-Song, wie es nur je einen gegeben hat, und es gibt einige. Wer sonst außer Cole Porter konnte in wenigen Zeilen und Takten das alles zusammen bringen? Vergangenheit und Gegenwart, Jugend und Alter, Sehnsucht und Tabu? Ein geradezu albern-fröhliches Riff wie aus seligen Love-Parade-Tagen legt sich über die düsteren Harmonien. So klingt sie, die Jugend, wenn sie sich nach 30 Jahren zur Unzeit meldet und von innen gegen die Gehirnrinde klopft.
Die Landschaft einer Metropole
Mit Erleichterung nehmen wir zu Kenntnis, dass die Pet Shop Boys vielleicht Musikkassetten verkaufen, aber deshalb noch nicht "retro" geworden sind. Retrospektiv im intellektuellen Sinn war ihre Musik dagegen bereits, als sie ihre großen Hits hatten, in denen der Hedonismus der Raver-Generation an seiner wechselhaften Geschichte gespiegelt wurde.
Ein Zelda-Fitzgerald-Zitat im Refrain von "Being Boring" ("Wir haben uns nie gelangweilt, weil wir niemals langweilig waren") verwies auf die wilden 1920er, das gecoverte "Go West" der Village People an die LGBT-Bewegung der 70er. Beide Jahrzehnte bestimmen auch die Hommage an Berlin, zu der sich der überwiegende Teil der neuen Songs zusammenfügt. Alle Tracks bis auf einen wurden in den Hansa-Studios aufgenommen, wo David Bowies Berlin-Trilogie entstand, auch wenn Neil Tennant und Chris Lowe in Interviews lieber auf die dort so "exzellent eingespielten Schlager" verweisen.
Lediglich "Burning the Heather", die aktuelle Single, entstand in den Londoner RAK-Studios, wo sich immerhin noch DNA von Hot Chocolate oder Suzi Quatro finden lassen könnte. Was für eine feine, herbstliche Ballade. Die Pet Shop Boys konnten Metropolen wie Landschaften beschreiben, aber mit echten Landschaften geht das natürlich erst recht. Alle Jahreszeiten-Symbolik eingeschlossen:
"Autumn is here and they’re burning the heather/ Sheepdogs are running hell for leather/ Seasons are changing, time's moving along/ Give me a drink and I'll be gone."
Zeitlosigkeit gegen den schnellen Musikkonsum
Wenn wir schon fast bei Vivaldi sind, darf es zum Finale auch Mendelssohn-Bartholdy sein: Ein abgebrochenes Riff aus seinem Hochzeitsmarsch feiert ihn so ehrfürchtig wie Chuck Berry einst Beethoven feierte. Und fürchtet das Naheliegende so wenig wie der Titel den Kalauer: "Wedding in Berlin". Schon Shakespeare habe seine Komödien gerne mit Hochzeiten enden lassen, meint Neil Tennant dazu.
So sehr sich das Duo gern über die Attitüden des Rock’n’Roll amüsierte, die Kraftprotzerei und das Buhlen um den Ewigkeitswert eines perfekten Albums – eine zeitlose Konzeptplatte ist es doch geworden.
Der größte Verlust der Musikkultur in der digitgalen Ära ist ja ein sozialer: Wann hat man sich zuletzt mit Freunden getroffen und ein Album gehört? Genau danach giert dieses Werk mit seiner bedachten Abfolge schneller Dancefloor-Nummern mit Balladen. Wie so oft in ihrem Werk mischen sich dabei Glück und Trauer unvorhersehbar und scheren sich wenig um die Tempi. "Happy people" ist eines dieser tieftraurigen und doch rasanten Stücke, der reinste Totentanz: "Happy people/ living in a sad world".
Weise Warnungen für die Spaßgesellschaft
Aller Glanz und alle Tragik, ein Pet Shop Boy zu sein – oder einer ihrer Zeitgenossen – schwingt darin mit: "The feeling of epic grandeur/ At the end of a summer’s day/ The sense of so much missing/ When the world gets in the way".
Die sogenannte Spaßgesellschaft haben sie schon in ihrer eigenen Jugend mit weisen Warnungen und unerwarteten Mollakkorden überzogen. Zugleich waren sie ein Vorbild an Selbsterneuerung, auch als Gegengift zur im Pop so beliebten Selbstgefälligkeit. Alle drei Jahre änderten sie ihre Outfits und Images. 1999 zum Beispiel, bei einer Begegnung in Köln aus Anlass der Veröffentlichung des Albums "Nightlife" trugen sie Warhol-Perrücken und erklärten dazu, dass die Welt mehr Punk gebrauchen könnte. Früher ließen sie uns hinter die Kulissen des Jungseins blicken. Auch beim Altwerden sind sie uns jetzt noch ein kleines Stück voraus.