Der Rasen auf dem Friedrichsplatz in Kassel könnte in diesen Tagen auch ein Mahnmal für die Klimakrise sein. Seit Mitte Juni hat es in Nordhessen nicht mehr nennenswert geregnet, und die Sonne brennt auf ein paar traurige, vertrocknete Grasreste. Dabei sollte die gelbliche Steppe zwischen Fridericianum, Staatstheater und Documenta-Halle eigentlich mal ein zentraler Ort der diesjährigen Weltkunstschau unter der Regie des indonesischen Kollektivs Ruangrupa werden. Während der Preview-Tage vor rund einem Monat steckten hunderte bunte Pappfiguren in der noch wesentlich grüneren Wiese, an einem Gerüst sollte eines der größten Gemälde der Ausstellung installiert werden.
Aber dann wurde der Friedrichsplatz auch zu dem Ort, an dem die Documenta Fifteen so schrecklich scheiterte. Auf dem Banner "People's Justice" der ebenfalls indonesischen Künstlergruppe Taring Padi waren antisemitische Motive zu sehen, das Werk wurde zuerst verhüllt und dann abgebaut. Mit den Stoffbahnen verschwanden auch die Pappaufsteller des Kollektivs - viele davon wurden von Kasselern und Documenta-Besuchern einfach mitgenommen. Eine Zeit lang erinnerte noch das leere Metallskelett an den Skandal, inzwischen sind nur noch die Abdrücke der Stangen im Boden zu sehen.
So ist die Kasseler Mitte jetzt auf mehreren Ebenen ein düsteres Symbol: Sie zeigt ganz physisch die Verwüstung, den der Antisemitismus auf der Documenta angerichtet hat und repräsentiert ziemlich exakt die verbrannte Erde, die in der erbitterten Debatte der vergangenen Wochen hinterlassen wurde. Gleichzeitig passt dieser leere Teil des Friedrichsplatzes (nur ein Werk des Deutschen Architektenbundes erinnert noch an Kunst, gehört aber nicht offiziell zur Ausstellung) auch an die seltsame Passivität der Documenta im Umgang mit dem Eklat und dem Vorwurf einer antisemitischen Grundhaltung.
Diesen apokalyptischen Ort verwandeln
Obwohl sich alle Beteiligten inzwischen mehrfach entschuldigt haben, sind ein wirklicher Aufklärungswille und die Bereitschaft zur Diskussion bisher nicht erkennbar. Die Statements von Generaldirektorin Sabine Schormann trugen eher zu neuen Verwerfungen als zur Verständigung bei, Berater Meron Mendel und Künstlerin Hito Steyerl warfen das Handtuch, und mehrere Beteiligte widersprachen Schormann öffentlich. Inzwischen wurde die Kulturmanagerin aus ihrem Vertrag entlassen, Documenta-Veteran Alexander Farenholtz soll als Interimsgeschäftsführer nun retten, was noch zu retten ist.
Dazu könnte gehören, die apokalyptische Brache am Friedrichsplatz in eine Begegnungsstätte zu verwandeln. Schließlich ist es das, was Ruangrupa zeigen wollte und was viele der Kollektive anderswo in Kassel eindrucksvoll vorführen: Kunst kann verbinden und Widerstände überwinden, sich problematische Orte zurückerobern. Darum ist es umso befremdlicher, dass an vielen Schauplätzen der Documenta Fifteen fleißig diskutiert und geworkshopped wird, während das unfreiwillige inhaltliche Zentrum der Schau verödet.
Eigentlich war als Konsequenz aus dem Skandal längst ein solcher Dialogort auf dem Friedrichsplatz in Zusammenarbeit mit der Bildungsstätte Anne Frank geplant. Bisher ist davon aber nichts zu sehen - ob der Plan nach dem Rückzug des Direktors Meron Mendel noch besteht, ist ungewiss. Laut Angaben der Documenta ist das Thema derzeit "noch im Gespräch". Die Fläche vor dem Staatstheater erneut zu bespielen soll nicht heißen, das Geschehene zu überdecken. Taring Padi hatten zuerst vorgeschlagen, ihr schwarz verhülltes Banner als "Mahnmal der Trauer" stehen zu lassen, was jedoch das verletzende Werk erst recht in den Mittelpunkt der Documenta gerückt hätte. Wessen Trauer eigentlich gemeint war, blieb ebenfalls unklar.
Publikum und Künstler mit einbeziehen
Daher müsste es darum gehen, einen Ort zu schaffen, an dem geredet werden kann und an dem auch das Publikum und andere Künstlerinnen und Künstler in die Debatte mit einbezogen werden. Wer ohne gründlichen Medienkonsum nach Kassel reist, bekommt den Konflikt in keiner Weise erklärt, und viele Beteiligte der Documenta fühlen sich nach eigener Aussage in Kassel zunehmend unwohl und unter Generalverdacht gestellt. Und auch ein klares Signal an Menschen, die von Antisemitismus betroffen sind, gab es bisher nicht.
All das zu beheben ist natürlich ziemlich viel verlangt. Und dass es im Spannungsfeld zwischen Antisemitismus und Postkolonialismus, zwischen Perspektiven des "globalen Südens" und historischer deutscher Verantwortung irgendeine Art von Konsens geben wird, ist ebenfalls utopisch - auch wenn der Aufsichtsrat der Documenta mit seiner Forderung nach "fachwissenschaftlicher Begleitung" suggeriert, es gebe bei diesen Themen so etwas wie akademische Einigkeit, auf die man sich berufen könne.
Einen Ort zu schaffen, an dem verschiedene Stimmen Gehör finden und wirklich Interesse am Austausch besteht, wäre jedoch ein wichtiger Anfang und ein Zeichen des Respekts gegenüber allen Beteiligten. Alles ist besser, als den Friedrichsplatz weiter vertrocknen zu lassen. Wenn dort je wieder etwas wachsen soll, müsste man jetzt mit der Pflege beginnen.