Da steht ein Haus im Museum, ein echtes Haus im Museum. Nur ist es viel zu schmal, um bewohnbar zu sein. Und begehbar ist es auch nur, wenn man den Bauch einzieht, die Schultern zusammenzieht, die Arme eng an den Körper drückt und sich langsam vorwärtsschiebt. Durch den Flur Richtung Badezimmer und Toilette geht es nur im Seitwärtsgang, ganz langsam, Schritt für Schritt und mit der bohrenden Frage im Kopf, ob sich nicht irgendwo auf einem Tisch eine Flasche mit der Aufschrift "Trink mich" oder ein Kuchen mit der Aufforderung "Iss mich" findet. Denn das Haus und seine Inneneinrichtung sind geschrumpft, als wäre alles eingelaufen, auf eine Breite von einem Meter und zehn Zentimetern, aber der Besucher nicht mit ihm.
Das schmale Haus oder auch "Narrow House", wie der Titel des Werks von Erwin Wurm lautet, gibt es seit 2010 und seitdem ist es gut rumgekommen in der Kunstwelt. Während der Biennale stand es in Venedig am Canal Grande. Ein schmales Häuschen mit Satteldach stand dort neben einem venezianischen Palast als Symbol für die kleinbürgerliche Wohnidylle, für die bürgerliche Sehnsucht der Nachkriegsgeneration nach einem Eigenheim. Jetzt wurde der Österreicher Erwin Wurm wieder zum Häuslbauer und hat die zusammengestauchte Version seines Elternhauses aus der Steiermark in wenigen Tagen in der Berlinischen Galerie hochgezogen.
"Bei Mutti" lautet der Titel seiner Ausstellung und klar, denkt man, Elternhaus, bei Mutti, wo sonst? Nun heißt es also wie bei Jonathan Meese auch bei ihm, ja, der Wurm und seine Mama, ohne sein Elternhaus ist er nichts, oder wie? Fragt man aber den Künstler selbst nach dem Titel, schmunzelt er, lehnt sich bedächtig zurück und sagt: "Ich bin jetzt bei Mutti in Deutschland." Klingt gut, klingt nach Headline. Gerade jetzt, wo Angela Merkel, die Mutti der Nation, im Dauerfeuer der Kritik steht. Wie meint Wurm das nun? "Mutti macht ihre Grenzen auf", sagt er, ein neues Europa würde sie damit kreieren. Aber all das wolle er politisch nicht bewerten, lenkt er schnell ein. Gut finde er, dass sie damit ihr Zuhause aufmachen würde.
Das Häusliche, Provinzialität, die Wohlstandsgesellschaft und das Gefühl von Heimat spielen im Werk von Erwin Wurm eine nicht unbedeutende Rolle. Zur Welt gekommen ist er 1954 im steirischen Bruck an der Mur. Die 50er-Jahre sind es auch, die in seinen neuen Arbeiten in der Berlinischen Galerie, die er einfach "Neue Werke" nennt, wiederkehren. Er hat Möbel im Design der 50er und Einrichtungsgegenstände, wie eine Wanduhr, einen Seifenspender, einen Kühlschrank und ein Bett so deformiert und zugerichtet, dass der Kühlschrank aussieht wie ein Stück Butter, das eigentlich darin aufbewahrt wird, und der überdimensionierte Seifenspender wirkt, als hätte jemand immer wieder dagegen getreten und darauf eingeschlagen. Von häuslicher Gewalt ist das alles aber weit entfernt. So zumindest möchte es der Künstler verstanden wissen. Am Beispiel des Bettes erklärt er, worum es ihm geht. Das Bett trägt den Titel "Snow". Ein Bett ist weich – gut, wenn etwas mit der Matratze nicht stimmt, ist es hart – Schnee ist weich, aber nur im Schnee hinterlassen wir Spuren, im Bett verschwinden sie sofort wieder. Wenn er nun das Bett Schnee nennt, legt er eine Fährte, erklärt er, und schreibt den Gegenständen damit eine andere Wertigkeit ein. Er spricht von der "Poesie der Verschiebung von Wertigkeiten".
Mit Materialien und Wertigkeiten arbeitet und spielt Wurm eigentlich schon immer. Seine "One Minute Sculptures", die es seit fast 20 Jahren gibt, machten ihn bekannt. Sein Material, das er nicht einmal anfassen muss: der menschliche Körper. Erwin Wurm möchte, dass die Besucher seiner Ausstellung genau das tun, was er von ihnen möchte. Ihren freien Willen geben sie am besten gleich beim Kauf einer Eintrittskarte an der Kasse der Berlinischen Galerie ab. Die "One Minute Sculptures" gibt es nur, wenn die Museumsbesucher mitmachen. Wenn sie den Handlungsanweisungen folgen, die er auf Zettelchen geschrieben und gezeichnet hat. Wenn sie auf ein Podest steigen, sich auf einen Teppich setzen und eine Minute an Spinoza denken. Oder wenn sie ein anderes Podest betreten und sich auf Tennisbälle legen oder sich Bücher von Philosophen zwischen Arme und Beine klemmen. Klingt unbequem und schwierig, es ist unbequem und schwierig. Skulptur für eine Minute. Ein echter Wurm ist die Skulptur, also man selbst aber nur, wenn man seine Anweisungen genau befolgt. Auf dem Teppich sitzen und an Adorno denken: fail. Zu Hause auf dem Teppich sitzen, an Byung-Chul Han denken und ein Bild für die sozialen Medien machen. Ganz verwerflich.
Das alles wirkt in ein bisschen oberlehrerhaft oder wie eine Mutti, die zu ihrem Kind ständig sagt: Tu dies, tu das, lass dies, mach das. Sind wir bei Papi? Wurm hat mit dem Konzept der "One Minute Sculptures" den Skulpturbegriff erweitert, das Werk selbst aber ist nicht erweiterbar. Für das, was aus seinen "One Minute Sculptures" heute in den sozialen Medien wird, wie Leute diese Idee aufgreifen und zu Hause mit den vorhandenen Schüsseln, Stühlen, Obst oder einem Teppich umsetzen, interessiert er sich nicht, gibt Wurm unumwunden zu. Er gehört einer Generation von Künstlern an, für deren Arbeit das Internet keinerlei Bedeutung hat, die es ganz im Gegenteil als Bedrohung erfahren – Bilder und Ideen werden geklaut – oder sich einfach nicht dafür erwärmen können. Früher gab es kein Internet, deshalb geht es auch weiterhin ohne, denken sie sich. Morgens stehe er auf und gehe direkt in sein Atelier ans Werk, erzählt er. Er hält es nicht wie die Generation Smartphone, aufwachen, nach dem Smartphone greifen. Seinen Arbeiten schadet das nicht, Erwin Wurm hat mit den Handlungsanweisungen und der Erweiterung des Skulpturbegriffs seine Nische gefunden. Eine unterhaltsame noch dazu.
Und vielleicht gibt es ja irgendwann eine neue Arbeit, vergleichbar den Handlungsanweisungen, die versprechen, das Körpervolumen in acht Tagen um zwei Konfektionsgrößen zu steigern. In der Berlinischen Galerie liegen die Blätter mit den Instruktionen in Vitrinen aus, die abgeschritten werden können. Das Programm sieht wenig Bewegung, viel Schlaf, viel ungesundes Essen, viel Fernsehen und viel Schoki und Sahne vor. Ein Ratgeber also, der es nicht gut mit einem meint oder es sogar so gut mit einem meint, dass Schlankheits- und Schönheitswahn zum Übel werden, von dem man dringlich, ganz schnell und am besten in knapp einer Woche geheilt werden muss. Mit Schoki und Sahne. Vielleicht heißt es irgendwann: Smartphone abstinent für immer. Smartphone auf das Podest legen und eine Minute darauf herumhüpfen. Ein deformiertes und malträtiertes Handy, ein sehr altes Modell, jedenfalls gibt es unter seinen "Neuen Werken" schon.