Filmfestival oder Kunstbiennale? Kino oder Museum? Da würde sich jeder in den Regiestuhl plumpsen lassen, wenn er zwischen brotloser Kunst oder, noch ein Klischee, glamouröser Filmwelt wählen sollte. Sam Taylor-Johnson hat insofern alles richtig gemacht, als sie "Fifty Shades of Grey" inszenierte und so die Videokünstlerin Sam Taylor-Wood, die sie einmal war, mit einem kräftigen Tritt ins Aus bugsierte. Steve McQueen bekam bisher beide Disziplinen unter einen Hut: 2015 reihte er sich brav in die Teilnehmerliste der Venedig-Biennale ein, als wäre sein Oscar für "Twelve Years a Slave" nur ein Traum gewesen. Was das Kino mit aus dem Kunstbetrieb stammenden Jungregisseuren anstellt, ist also von Fall zu Fall verschieden. Der britische Künstler Phil Collins hat im März 2016 mit "Tomorrow Is Always Too Long" seinen ersten Langfilm herausgebracht. Und jetzt? Das könnte man ebenso Omer Fast fragen, dessen Spielfilmdebüt "Remainder" am 12. Mai 2016 ins Kino kommt.
Doch wie Collins und McQueen will sich auch Fast, 1972 in Jerusalem geboren, nicht in die eine oder andere Schublade quetschen lassen. So läuft die Videokunst-Ausstellung "Omer Fast: Present Continuous" im Baltic Centre for Contemporary Art im britischen Gateshead noch bis 26. Juni. Ebenso ein Aufbruch – seine bis dato größte Überblicksschau im Vereinigten Königreich.
"Remainder" bedeutet Überbleibsel. Die Verwechslung des Spielfilmtitels mit "Reminder" (deutsch: Erinnerung oder auch Abmahnung) dürfte aber beabsichtigt sein. Ein undefinierbares Etwas fällt vom Himmel auf den Kopf des namenlosen Helden (Tom Sturridge). Aus dem Koma erwacht er als körperliches und seelisches Wrack. Sein Gedächtnis ist wie ausgelöscht. Nun winkt ihm der gigantische Schadenersatz von 8,5 Millionen Pfund. Bedingung des anonymen Zahlers: Das Opfer muss den Mund halten. Mit der kleinsten öffentlichen Verlautbarung verlöre er das Geld. Der Patient schweigt, erholt sich körperlich. Die Amnesie bleibt, ein schwarzes Loch, durchzuckt von ein paar Bildern, die vielleicht Rest-Erinnerungen sind.
Fasts Kunstwerke basieren auf Interviews. Für das Einkanalvideo "Continuity", 2012 auf der Documenta erstmals gezeigt und jetzt im Baltic in einer längeren Neuversion zu sehen, sprach der Künstler mit aus Kriegseinsätzen heimgekehrten Soldaten und ihren Eltern. In "Continuity" versucht ein Ehepaar ihren gefallenen Sohn durch eine Reihe von Callboys zu ersetzen.
Wie Erinnerungen zu Geschichten werden oder andersherum Fiktion das Gedächtnis kapert: Diesen Themenkomplex umkreisen alle Werke des Künstlers. Die Story von "Remainder" – der Film basiert auf einem Roman von Tom McCarthy – scheint für Fast wie geschaffen: Die Hauptfigur agiert selbst wie ein Künstler, der die Erinnerungsfetzen zu einem neuen Ganzen zusammenfügt. Wobei Rekonstruktion in der Geschichte materiell zu verstehen ist: Mithilfe seines unerschöpflichen Etats und eines ihm ergebenen Immobilienmaklers namens Naz (Arsher Ali) kauft der Protagonist ein komplettes Mietshaus im Londoner Stadtteil Brixton auf, weil es ihn an sein früheres Leben erinnert. "Madlyn Mansions" steht auf dem Eingangsschild, eine Reminiszenz an Prousts Madeleine, das Teegebäck, das Erinnerungen zurückbringt.
"Remainder" wird zeitweilig zur ätzenden Parodie auf Gentrifizierung, wenn Sturridges Charakter aus dem Haus den Schauplatz seines persönlichen Reenactments macht: Lebende Katzen werden wie Requisiten auf dem Dach festgebunden, Statisten als Mieter engagiert, Leber wird in der Nebenwohnung
gebraten, damit ihr Duft durchs Treppenhaus zieht. Die verlorene Zeit muss wiedergefunden werden, auch um den Preis des Wirklichkeitsverlusts. Mit einem Raubüberfall, der in einer Bankkulisse geprobt wird, mündet "Remainder" in einen originellen Thriller.
Die Verwirrung von Erfindung, Fälschung, Realität ist ein gängiges Motiv der Filmgeschichte. Sie ist medial begründet, denn im klassisch fotografierten Kino existiert weder das nur Dokumentarische noch das rein Fiktive. Omer Fast hat das filmische Vexierspiel also nicht neu erfunden. Doch er beherrscht es mit erstaunlicher Raffinesse – und ohne die Kunstanstrengung, die bei David Lynchs "Inland Empire" (2006) aus jeder Pore schwitzt. "Remainder" wirkt zwar um Nuancen zu kühl, um durchweg mitzureißen. Dennoch ist seinem Regisseur ein imponierendes Drama um Identität, Ichverlust und Hybris gelungen.