Eine Tänzerin im schwarzen Ballkleid. Anmutig legt sie den Kopf zurück, hebt leicht ihren weit schwingenden Rock und lässt einen Fuß hervorblitzen. In Berlin können jetzt auch blinde Menschen dieses frühe Hauptwerk von Eugen Spiro (1874-1972) "sehen". Im Landesmuseum Berlinische Galerie ist das Ölgemälde in ein Tastrelief übersetzt. In eine Bank vor dem Original eingelassen, können die Besucher das Bild mit den Händen erkunden.
"Es geht um Bewegung, Lebendigkeit und Natur, und das soll sich auch so anfühlen", sagt Reiner Delgado, Sozialreferent des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands. "Das Tastbild spricht zu mir wie das Gemälde zu einem Sehenden.»
In einem zweieinhalbjährigen Projekt hat der Verband gemeinsam mit dem Museum die Dauerausstellung "Kunst in Berlin 1880-1980" barrierefrei erschlossen. "Wir wollten auch das Herzstück unserer Sammlung für Blinde und Sehbehinderte zugänglich machen", sagt Museumsdirektor Thomas Köhler. "Das ist etwas ganz Besonderes und ganz Neues, was es bisher in Deutschland nicht gab."
Sieben Bilder der Ausstellung können inzwischen als Tastreliefs erfahren werden. Zudem gibt es eine Audio-App, die siebzehn Werke so genau beschreibt, dass sie buchstäblich vor dem inneren Auge des Besuchers entstehen. "Das ist eine große Chance auch für die Sehenden, weil sie Dinge entdecken, die ihnen sonst vielleicht nicht aufgefallen wären", sagt die verantwortliche Referentin des Projektes, Diana Brinkmeyer.
Erschlossen wird der Rundgang durch ein taktiles Leitsystem am Boden. Immer wenn die geraden Linien von runden Kunststoffnoppen unterbrochen werden, ist ein wichtiger Haltepunkt erreicht. Über einen Sensor in der Decke schaltet sich die entsprechende Passage der App mit Erklärungen und Wegweisern ein, damit Blinde auch unbegleitet ihren Weg finden.
"Ich bin allerdings etwas blauäugig an das Projekt herangegangen", sagt der 47 Jahre alte Verbandsreferent Delgado, der von Geburt an sehbehindert ist. "Kunstmuseen sind ein bisschen eigen mit ihrer Kunst. Ich musste erst lernen, dass man nicht beliebig alles machen kann."
So gab es vor allem bei der Gestaltung der Tastbilder viele Debatten zwischen Blinden und Sehenden, Kunst- und Tastexperten. Bei dem kubistischen Gemälde "Synthetischer Musiker" (1921) des russischen Avantgardekünstlers Iwan Puni etwa wurde diskutiert, wie genau die in sich verschobenen Instrumententeile der Figur interpretiert werden sollten. "Auf dem Bild erkennt man nicht, ob es eine Flöte oder eine Trompete ist", so Delgado. "Wir wollten, dass man auch als Blinder darüber rätseln kann."
Der Anspruch des Projekts sei nicht, alles Wissen aufzubereiten, es solle auch Spielräume für persönliche Eindrücke und Erfahrungen geben, sagt Kuratorin Brinkmeyer. "Das Ergebnis ist sicher nicht abschließend oder perfekt. Aber wir haben aufgezeigt: Es geht."