G20-Protest und G20-Protestkunst

Aufstand der Hirntoten

Foto: Anika Meier
Foto: Anika Meier

Nach dem Ende des G20-Gipfels in Hamburg sind es nicht nur Bilder der Gewalt, die von den Protesten bleiben: Die Geisterzug-Performance "1000 Gestalten", die vor den Ausschreitungen noch etwas zu schaurig-schön und pädagogisch daherkam, wirkt jetzt wie eine Vorwegnahme der zombiehaften Aufstände der letzten Tage

Pünktlich zur Mittagspause schlurften am vergangenen Mittwoch zahllose graue Gestalten in Zeitlupe durch das Kontorhausviertel Richtung Burchardplatz, dem zentralen Platz des Quartiers. Lehmverschmiert, die Kleidung verkrustet, alt und starr, als müsse sie wie ein Panzer zum Schutz getragen werden. Oder als wäre es einfach egal, weil sowieso alles egal ist, weil: zu anstrengend. Die grauen Gestalten, sie kamen aus allen Richtungen, sie schlichen durch die Straßen, ließen sich hängen, kamen kaum voran und nahmen vor allem nichts und niemanden um sich herum wahr. Blieb einer von ihnen auf der Strecke liegen, weil er entkräftet zu Boden ging, stiegen die anderen über ihn hinweg.

Der Geisterzug bewegte sich unbeirrt durch die Hamburger Altstadt, vorbei am denkmalgeschützten Chilehaus von Fritz Höger, vorbei an den Besuchern der Protestaktion, der Presse und all den Überraschten, die eigentlich nur kurz einen Happen essen und dann zurück zur Arbeit eilen wollten. Langsam, sehr langsam ging es voran, fast zwei Stunden dauerte der Spuk. Ein nervtötendes Klacken begleitete fast jeden der Schritte, wie ein viel zu laut tropfender Wasserhahn, der das Wort Rhythmus nicht kennt.


Organisiert wurde die Aktion von einem Hamburger Kollektiv, das Ende Februar 2017 eigens dafür gebildet wurde. "Wir sind inzwischen über hundert Menschen aus den Bereichen Kunst, Handwerk und Kommunikation – und wir wachsen täglich", steht auf der Website. Im Vorfeld wurde um Spenden gebeten, kalkuliert wurden 37.000 Euro für Kleider, Anzüge, Lehm und Pigmente für alle Performer, für die Infrastruktur, Verkehrsumleitungen und vieles mehr. Das Spendenziel wurde nicht erreicht, performt wurde trotzdem. Vorgegeben war die Geschwindigkeit (30 Zentimeter in zwei Sekunden) und die Körperhaltung (hängende Schultern, Knie nicht durchdrücken, Blick nicht fokussieren, niemanden anschauen, auf Ansprache nicht reagieren), erzählt Martin Giese, der einer der letztendlich circa 640 grauen Gestalten war. Man bekommt natürlich doch einiges mit, wenn man so vor sich hinschleicht. "Gefühlt hat ganz Hamburg Fotos gemacht", erzählt er.

 

Mit maximalen Pathos wurde die Aktion von den Organisatoren kommuniziert und dokumentiert. "1000 Gestalten zum G20-Gipfel – legt Eure Panzer ab!", hieß es. Am nächsten Abend, als die "Welcome to Hell"-Demonstration brutal entglitt, vielleicht auch erst in der Nacht auf Samstag, als Extremisten die Schanze verwüsteten, war deutlich, wie dringend notwendig diese Protestaktion war, wie wichtig auch solche Bilder von friedlichen Demonstrationen sind. Während in der Schanze Barrikaden errichtet und angezündet wurden, während Steine, Flaschen und Böller flogen, saßen die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in der viel zu teuren Elbphilharmonie und hörten sich viel zu weit zurückgelehnt Beethoven an.

 

"Aus Sicht dieser Militanten haben sie auf jeden Fall die Bilder produziert, die sie wollten. (…) Der größte Gegensatz zum klassischen Konzert in der Elbphilharmonie mit Trump, Putin und Co. waren brennende Straßen", sagte der Journalist Martin Kaul im Interview mit "ZEIT Online". Im kollektiven Gedächtnis werden Bilder aus drei Krawallnächten bleiben, schwarze Gestalten, vermummte Gewalttäter, die durch die Schanze und Altona ziehen, Autos anzünden, Geschäfte plündern und Katz und Maus mit der Polizei spielen. Und ein selfie from hell, das so absurd ist, dass im Netz erst einmal stundenlang über die Echtheit diskutiert werden musste.

 

Ist das noch Kapitalismuskritik, wenn man eine Krawallkulisse zur Selbstinszenierung für die WhatsApp-Gruppe from Hell braucht? Schaut, es brennt so schön, sie zünden so schön die Barrikaden an, gleich plündern sie den Apple-Store um die Ecke, ich und mein iPhone waren auch hier. Senden. Mittlerweile weiß man, dass das Foto echt ist, ein österreichischer Fotograf hat es gemacht. Wer den Livestream auf "N-TV" verfolgt hat, bekam solch eine Szene nicht nur einmal zu sehen.

"Die verkrusteten Gestalten sollen für eine Gesellschaft stehen, die den Glauben an Solidarität verloren hat und in der der Einzelne nur noch für das eigene Vorankommen kämpft. Die 1000 GESTALTEN sollen eine Gesellschaft verkörpern, der das Gefühl dafür abhanden gekommen ist, dass auch eine andere Welt möglich ist. Dass nicht Börsennachrichten über unser Glück bestimmen, sondern gesunde Beziehungen, und dass sich Glück nicht darüber definiert, was wir haben, sondern was wir sind“, so erklärt das Kollektiv die Performance auf seiner Website.

Was noch am Mittwoch besonders für Kritiker von instagramtauglichen Kunstaktionen zu naiv, zu pädagogisch und zu angestrengt gutmenschelnd geklungen und ausgesehen haben mag, weil Kitschverdacht, kann jetzt nicht oft genug gesagt und gefragt werden: Was sind wir für eine Gemeinschaft, wenn falsche Solidarität in Gewaltausbrüchen endet, wenn Schaulustige die Arbeit der Polizei behindern und Mitläufer einfach mitplündern?

Am Ende der Performance lagen sich die grauen Gestalten, jetzt alles andere als grau, in den Armen. Sie rissen sich die verkrusteten Kleider vom Leib, rubbelten sich den Lehm vom Körper, halfen sich gegenseitig auf und tanzten in den Straßen.

Jetzt heißt es: Hamburg räumt auf! "Autos wurden angezündet, Scheiben wurden eingeschlagen, Müllcontainer angezündet und und und. Bilder wie aus einem Bürgerkrieg und das mitten in der schönsten Stadt der Welt!", steht in der Veranstaltungseite auf Facebook.

Eine andere Welt ist möglich. Wenn wir gemeinsam anpacken.