Galeristen Angelina Volk und Leopold Thun

"Wir waren naiv und energetisch"

Brexit, Corona und Multikrise: Seit sieben turbulenten Jahren sind Angelina Volk und Leopold Thun mit ihrer Galerie Emalin erfolgreich. Jetzt eröffnen sie zweite Räume in London. Ein Gespräch über ihre Strategie

In der Nähe des belebten Verkehrsknotens, an dem die Shoreditch High Street auf Old Street und Kingsland Road trifft, steht unscheinbar neben der St. Leonards Kirche ein denkmalgeschütztes Gebäude aus dem Jahr 1735, das älteste im Londoner Stadtteil Shoreditch. Eins der historischen Merkmale des Clerk's House: die Seitenpforte, eine mittelalterliche Kirchentür, die einst aus der benachbarten Kirche gerettet wurde. Durch dieses Portal soll schon Shakespeare regelmäßig eingetreten sein. In dem historischen, grauen Backsteingebäude eröffnet nun die Galerie Emalin ihren zweiten Standort. Parallel zum siebten Jubiläum der Galerie weiht die Gruppenausstellung "118 ½" die neuen Räumlichkeiten ein und verspricht eine facettenreiche künstlerische Erfahrung von Raum, Geschichte und Materialien. Ein Gespräch mit den Gründern, Angelina Volk und Leopold Thun 

Angelina Volk und Leopold Thun, wie sind Sie darauf gekommen, eine Galerie zu eröffnen?

LT: Wir haben Kunstgeschichte und Internationale Beziehungen in Schottland studiert, uns dort kennengelernt, zusammen in einer WG gelebt und wurden beste Freunde. Nach dem Studium sind wir beide nach London gezogen und haben hier viele großartige Künstler*innen kennengelernt. So begannen wir Pop-up-Ausstellungen zu organisieren. Wir haben insgesamt neun gemacht – in der Schweiz, in Schottland in London, in Litauen …

AV: Wir steckten zu dem Zeitpunkt mitten im Master und haben parallel dazu Teilzeit gearbeitet. Wir hatten nicht die Zeit oder das Geld eine Galerie zu eröffnen, deswegen diese Ausstellungen. Wir waren naiv und energetisch, haben nicht nachgedacht, sondern einfach gemacht. All das war vor dem Brexit, es war also noch einfacher Kunstwerke in einen Van zu packen und einfach loszufahren. 

LT: Uns ist damals bewusst geworden, dass viele Künstler*innen, Spaß an der Zusammenarbeit hatten und sich nach einer Galerie gesehnt haben. So kam es dazu, dass wir eine Woche nachdem Angelina ihre Masterarbeit eingereicht hat, die Galerie eröffneten.

Diese Ausstellungen fanden meist an untypischen Orten statt, an denen man Kunst nicht erwarten würde. 

LT: Es ging immer darum, was kuratorisch und für die Künstler*innen Sinn macht. Unsere letzte Ausstellung, die wir außerhalb der Galerie gemacht haben, fand zum Beispiel in Neapel statt. Es war eine große Gruppenausstellung in einer Kirche, die nicht mehr aktiv war. Das ganze kuratorische Konzept drehte sich um Flüchtigkeit und Kunstwerke, die im ersten Moment nicht auffallen. Maria Loboda hat zum Beispiel Zwischenräume der Kirchenfassade mit Kristallen gefüllt. Für eine andere Arbeit brauchten wir schwer auffindbare Hantarex-Bildschirme. Letztlich hat uns eine Freundin damit ausgeholfen und die Bildschirme aus dem Frankfurter Club Robert Johnson ausgeliehen. Wir haben improvisiert und Sachen einfach möglich gemacht.  

Hatten Sie das Gefühl, der Londoner Galerienszene fehlt etwas? Wollten Sie mit der Eröffnung ihrer Galerie etwas anders machen?

LT: Es ging uns nie darum, uns zwangsläufig von bereits Existierendem abzugrenzen. Uns ging es darum, Künstler*innen zu fördern, die wir nicht nur im Kontext von London, sondern auch global für bedeutend halten. Wir werden oft darauf angesprochen, dass viele Künstler*innen aus Osteuropa in unserem Programm vertreten sind. Dies ist eigentlich nicht der Fall. Namen wie Grantina, Serapinas oder Antufiev lesen sich allerdings anders als amerikanische. Es ging uns nicht darum, Osteuropa an sich zu stärken, aber es ist eine Tatsache, dass der größte Wandel in unserer Lebenszeit – wir sind beide 1990 geboren – der Zusammenbruch der Sowjetunion war. Die Suche nach eigener Identität war und ist eine der größten und faszinierendsten Herausforderungen in diesem Teil der Welt. Dass dadurch viele spannende und unterschiedliche Ausdrucksformen entstehen, ist kein Zufall. Über die Jahre hinweg hat die Tate die Hälfte unseres Programms erworben. Das bedeutet, dass wir Künstler*innen gefördert haben, die eine Lücke in der Sammlung des Museums füllen. Das ist ein gutes Gefühl. 

AV: Von Anfang an haben wir nicht unmittelbar auf Kunstmarkttrends reagiert. Für uns stand immer das Langfristige im Vordergrund. Alle Zusammenarbeiten, die wir eingegangen sind, sind langfristig angelegt. Es geht nicht darum, bei der nächsten angesagten Sache dabei zu sein. Mittlerweile sind viele unserer Künstler*innen, von denen zuvor kaum jemand gehört hatte, auch von weiteren internationalen Galerien vertreten werden. 

Was ist Ihnen bei der Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern wichtig? 

AV: In der Regel nehmen wir uns immer ausreichend Zeit, bevor wir offiziell mit jemandem zusammenarbeiten. Natürlich steht die künstlerische Arbeit im Vordergrund, aber es ist uns wichtig, dass Freundschaft entsteht. Unser Programm ist vielfältig. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Arbeiten unserer Künstler*innen nicht nur auf Ideen basieren, sondern immer auch darauf wie diese sich in Objektform lösen. 

LT: Wir müssen von der Vision der Künstler*innen überzeugt sein. Ein Beispiel ist Alvaro Barrington. Als wir ihn erstmals in seinem Atelier besuchten, malte er noch kleine Postkarten. Ein paar Jahre später schuf er bereits eine gigantische Installation für die South London Gallery. Es war schon während unseres Besuchs offensichtlich, dass er irgendwann solche Werke schaffen würde, auch wenn seine Arbeiten zu dieser Zeit noch ganz anders aussahen.

AV: Diese Visionen werden spürbar, wenn man mit Künstler*innen ins Gespräch kommt. Besonders bei jungen Künstler*innen interessiert uns nicht nur, was sie in ihrer Abschlussschau präsentieren – das ist lediglich ein Anfang. Was zählt sind ihre Absichten, ihr Antrieb, ihre Ambitionen.

Mit unterschiedlichen Formaten arbeitet die Galerie auf verschiedenen Ebenen. Warum? 

AV: Wir wollen einladend und nicht einschüchternd sein, verschiedene Zugangsmöglichkeiten und Einblicke schaffen – sei es durch eine Pressemitteilung, die nicht in einer blumigen Kunstsprache verfasst ist oder durch unser Stories-Format, bei dem sich die Künstler*innen einen interessanten Gesprächspartner selbst aussuchen, anstatt immer gleiche Antworten auf immer ähnliche Fragen zu geben. Die von uns kuratierten Ausstellungen sind anspruchsvoll, aber wir möchten sie auf eine Art vermitteln, die Menschen bereichert. Außerdem arbeiten alle Künstler*innen in unserem Programm interdisziplinär. Nikita Gale und Jasper Marsalis zum Beispiel kommen von der Musik. Megan Plunkett hat eine eigene Verlagsgruppe, Kingsboro Press. Es gibt permanent Überschneidungen in der Art sich mit ihren Praktiken auseinanderzusetzen. 

Inwiefern hat die Kollaboration zwischen Ihnen beiden einen Einfluss auf die künstlerische Ausrichtung und das Programm der Galerie?

AV: Kollaboration spielt in unserer Galerie eine bedeutende Rolle. Sowohl innerhalb unserer Galeriepartnerschaft als auch bei unseren Künstler*innen ist dies deutlich zu erkennen. Beispielsweise arbeitet Nikita Gale für ihre Lichtinstallationen mit der Lichtkünstlerin Josephine Wang zusammen, während auch Alvaro Barrington eine kollektive Praxis pflegt. Seit der Gründung von Emalin nehmen wir zudem am Projekt Condo teil, einem groß angelegten kollaborativen Ausstellungsprojekt internationaler Galerien. Condo war für uns immer eine Möglichkeit, gemeinsam mit anderen eine Ausstellung zu gestalten. Im Januar wird das Format wiederholt, und gemeinsam mit der Galerie Neu aus Berlin präsentieren wir Arbeiten von Manfred Pernice und Megan Plunkett. Megan arbeitet konzeptuell und ist eine rigorose Fotografin, während Manfred auf seinen Skulpturen ebenfalls mit Bildern arbeitet, jedoch räumlicher denkt. Die Kombination ihrer künstlerischen Praktiken wird spannend. 

LT: In London gibt es weniger diese klare Trennung zwischen kommerziellen und kuratorischen Aspekten, eine Unterscheidung, die oft Kollaborationen erschwert. Wir kooperieren viel mit Institutionen wie der South London Gallery, der Serpentine Gallery, Chisenhale oder dem ICA.

Wie kam es zu der Entscheidung, einen zweiten Space unweit eurer jetzigen Location zu eröffnen? 

AV: Beim Nachdenken über Expansion begannen wir das Konzept growing for growth's sake zu hinterfragen. Für uns ist es von großer Bedeutung, dass unser Wachstum organisch und im Einklang mit unserer Identität erfolgt. Wir wollen die Kontrolle behalten und nah an der Kunst bleiben. Es gibt zahlreiche Geschichten von aufwendigen Galerie-Renovierungen und enormen laufenden Kosten. Wir möchten kein Unternehmen mit Tausenden von Angestellten schaffen. Der Grund, warum wir das tun, was wir tun, liegt darin, mit Künstler*innen zusammenzuarbeiten und Ausstellungen zu konzipieren.

LT: Diese zweite Location, die so nah an der ersten liegt, bietet eine besondere Möglichkeit. Im Einzelhandel beispielsweise fokussiert man sich zunehmend auf erfahrungsorientierte Ansätze, sei es durch Flagship-Stores oder Modehäuser, die nicht nur auf Produkte, sondern auf Erlebnisse setzen. In unserem Fall bedeutet das, dass man nicht nur 20 Minuten in einem Raum verbringt, sondern beim gemeinsamen Spaziergang zur zweiten Location den Besuch auf die doppelte Zeit ausdehnen kann. In London gibt es zudem diese deutliche Ost-West-Teilung. Wenn man also extra aus dem Westen hierher reist, hat man mindestens eine Stunde mit uns.

Die Eröffnungsausstellung heißt "118 ½." Wie setzt diese den Auftakt für die neue Location?

AV: "118 ½" ist eine Gruppenausstellung. Die Auswahl umfasst sowohl Künstler*innen, die wir vertreten, wie Alvaro Barrington, Sung Tieu, Adriano Costa oder Nicholas Cheveldave, als auch solche, die wir lieben und seit langem verfolgen. Darunter befinden sich auch sehr junge Künstler*innen wie Coumba Samba, die im Jahr 2000 geboren ist und mit der wir im kommenden Jahr eine Einzelausstellung machen. Mit Stanislava Kovalcikova zum Beispiel planen wir dieses Jahr ebenfalls eine Einzelausstellung. "118 ½" dient unter anderem als Vorschau auf das, was im kommenden Jahr geschehen wird, und bietet den Künstler*innen eine Gelegenheit, die Räumlichkeiten schon einmal kennenzulernen.  Das Konzept der Ausstellung ist eng mit der Geschichte des Clerk’s House verknüpft, die äußerst spezifisch ist. Es wird angenommen, dass das Gebäude früher ein Wachhaus war, von dem aus ein Aufseher während der sozialen Unruhen im 18. und 19. Jahrhundert nach Leichenräubern Ausschau hielt. Die Hausnummer 118½ leiht der Eröffnungsausstellung ihren Titel und steht symbolisch für einen Ort zwischen Kirchengrund und säkularer Welt. Auf diese Zwischenzustände fokussiert sich die Schau. Dabei wird das Gebäude als Behälter für Erinnerungen und Träger von Material- sowie Architektur- und Kulturgeschichte betrachtet. Die Idee, mit Geschichten und Materialgeschichten zu arbeiten, durchzieht das gesamte Konzept der Galerie.