Rodney Graham in München

Wer ist er – und wenn ja, wie viele?

Wiederholt irrwitzig: Rodney Graham zieht in München seine Kreise

Paris um 1860. Ein Dandy tritt einem Landbewohner in den Hintern. Ein Hut fällt aufs Pflaster, worauf sich der Provinztrottel bückt, sich den Zylinder wieder aufsetzt, erneut getreten wird. Rodney Graham drehte diesen Videoloop "City Self/Country Self" im Jahr 2000 mit zwei Schauspielern, die Gesichtsmasken mit seinen eigenen Zügen tragen. Er sei "ein wenig Rock und ein wenig Country", kommentierte der musikbegeisterte Künstler dieses Video einmal. Filme, Fotos, Malereien, Installationen und Skulpturen – Gattungsgrenzen scheinen für Graham nicht zu existieren. Wer ist er – und wenn ja, wie viele, fragt man sich im Vorfeld des retrospektiven Solos mit fast 50 Werken in der Sammlung Goetz. Und die Rollenperformances der Nullerjahre sind nur ein Teil seines auch ansonsten schwindelerregend abwechslungsreichen Werks.

Wie bei anderen Künstlern der sogenannten Vancouver School – Stan Douglas, Jeff Wall – spielt die Rezeption der europäischen Moderne eine zentrale Rolle für Graham. Inspiriert von der Kunst der Appropriation, entwickelte er seine Strategie der "Annexion", bei der er Zitate oder ganze Werke einem neuen Opus einverleibt. In München ist eine Graham-Komposition zu hören (Uraufführung: 2000 in Berlin), die auf Wagners "Parsifal" zurückgeht, genauer: eine theaterpraktische Ergänzung von Engelbert Humperdinck – für Graham ein Appropriationist avant la lettre.

1987 schrieb Graham den Roman "The System of Landor’s Cottage" als gestreckte Version der letzten Erzählung von Edgar Allan Poe. Indem er den kompletten Originaltext erheblich ergänzte, wandte der Künstler eine Schreibtechnik des Schriftstellers Raymond Roussel an. Gezeigt wird die Installation "Mannitol from Heaven" (2008), unter anderem bestehend aus einer mit weißem Pulver bestreuten Schreibmaschine. Eine verzwickte Hommage auf den drogensüchtigen Roussel, der sich mit Schlafmitteln umbrachte. Mannitol ist eine weiße Substanz, die als Droge wie als Sprengstoff eingesetzt wurde.

Das Knallgas seiner Kunst setzt sich aus persönlichem Irrwitz und geliehener Substanz zusammen. Sigmund Freud, Stéphane Mallarmé, Lewis Carroll und Kurt Cobain. Graham-Werke sind oft komisch, aber nicht zuletzt in seinen Video-Endlosschleifen steckt ein tragischer Hintersinn: der Mensch im Hamsterrad seiner Rituale.