Filmfestspiele in Venedig

Starke Frau mit Hund

Laurie Anderson zeigt "Heart of a Dog" im Wettbewerb des Filmfestivals in Venedig

Wer gewinnt den Goldenen Löwen der 72. Mostra? Starke Storys in der zweiten Hälfte des Wettbewerbs lassen die Wahrscheinlichkeit schrumpfen, dass wieder ein Film der Dokumentarsparte das Rennen macht – wie 2013, als mit "Sacro GRA" ein (mäßiger) Film über die römische Ringautobahn siegte. Allerdings sind vergleichbare Filme in diesem Jahr viel besser aufgestellt.

Wozu braucht man die Unterteilung in Spielfilme und Dokus überhaupt? Solange sie mit der Kamera gedreht sind, lügen Filme wohl immer – und sind zur selben Zeit wahr. Fest steht: Was dokumentarisch aussieht, gehört auf ein Festival, wenn es überzeugt. Wie Alexander Sokurovs Louvre-Hommage "Frankofonia", wie Amos Gitais schwer beeindruckender Film "Rabin, the Last Day" (beide im Wettbewerb). Der israelische Regisseur erinnert an den 1995 ermordeten Ministerpräsidenten, zeigt dokumentarische Bilder, die Spaltung des Landes, in Spielszenen die Arbeit einer Untersuchungskommission.

Jitzchak Rabin war kurz davor, eine Zweistaaten-Lösung für Israel und Palästina zu etablieren. Gitai macht schmerzhaft die weitreichenden Folgen des Attentats deutlich. "Rabin" ist der politischste Film des Festivals, zumal er offene und scharfe Kritik an dem Likud-Block und dem amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu übt.

Einen anderen Ton schlägt Laurie Anderson in ihrem Wettbewerbsfilm "Heart of a Dog" an. Der neue Film der US-amerikanischen Musikerin und Performance-Künstlerin, die zweimal an der Documenta teilnahm, ist ein zwischen Humor und Melancholie changierender Essay über existenzielle Dinge. Das Goya-Gemälde "Der Hund", in dem das Tier seinen Kopf über eine Landzone unter einem weiten Goldhimmel streckt, ist ein Schlüsselbild des Films um Himmel und Erde, Leben und Tod.

Anderson präsentiert tagebuchartige Aufzeichnungen ihrer Videokamera, vor allem solche, die nach 9/11 entstanden sind. Die Künstlerin verließ ihren New Yorker Wohnsitz gen Kalifornien, weil die Überwachung seit dem Einsturz der Twin Towers allgegenwärtig wurde. Anderson widmet sich auch dieser Paranoia, aber ihre filmische Rede bleibt – neben philosophischen Zitaten – immer persönlich eingefärbt. Zu den wichtigsten Stationen ihres virtuos gestalteten Filmessays zählen ein langer Krankenhausaufenthalt als Kind, der Tod ihrer Mutter und das Sterben Gordon Matta-Clarks, das ihr Künstlerfreund als Performance inszenierte – an seinem Sterbebett wurde das tibetanische Totenbuch gelesen.

Hauptfigur ist aber Andersons Hund Lolabella, zu der die Künstlerin ein ungewöhnlich gleichberechtigtes Verhältnis unterhielt. Mit Lolabella kommunizierte sie auf Augenhöhe und brachte ihr das Klavierspielen bei. Als es der Terrier-Hündin schlecht ging, praktizierte Anderson Sterbebegleitung, statt sie einschläfern zu lassen. Was verschroben klingen mag, ist so gefühlvoll und mit Sinn für komische Momente vorgetragen, dass man die Erzählerin nur ins Herz schließen kann.

Auf ihrer Pressekonferenz am Lido erinnerte Laurie Anderson an Lou Reed, mit dem sie von 2008 bis zu seinem Tod 2013 verheiratet war. Was ihre Gedanken und die gezeigten Bilder in ihrem Film angeht, hält die Künstlerin den Musiker weitgehend aus "Heart of a Dog" heraus. Der Film ist weder aufgeplusterter Ego-Trip noch eine Star-Biographie mitsamt dem Defilee berühmter Wegbegleiter. Anderson bleibt ganz bei sich, lässt die Gedanken treiben und zaubert einen der schönsten Filme auf die Festivalleinwand.