Mehr als 100.000 Quadratmeter Stoff, über 15 Kilometer blaues Seil - die Verhüllung des Berliner Reichstags war eines der spektakulärsten Projekte, die das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude je gemacht hat. Am 24. Juni 1995 war der letzte Handgriff getan. In den folgenden zwei Wochen ließen sich mehr als fünf Millionen Menschen von dem irisierend schimmernden, scheinbar schwerelosen Koloss auf der Reichstagswiese verzaubern - ein Objekt von einem anderen Stern.
Noch heute, 20 Jahre später, haben viele Besucher den Anblick unauslöschlich in Erinnerung. Christo wurde kürzlich 80, seine Frau Jeanne-Claude ist 2009 gestorben - ihr "Weltkunstwerk" wird bleiben. "Die Aktion hat im Ausland das Bild eines anderen Deutschland vermittelt - eines friedlichen und kulturell offenen Landes", sagt die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), damals treibende Kraft für das Projekt, in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur.
Angefangen hatte alles mit einer Ansichtskarte des Reichstags, die Christo 1971 von dem in Deutschland lebenden US-Journalisten Michael S. Cullen bekam. Der Künstler, nach seiner "Verhüllten Küste" in Australien und einem Vorhangprojekt in den Rocky Mountains bereits berühmt, war von dem damals wenig genutzten Gebäude an der Westseite der Mauer sofort begeistert. "Bitte besorgen Sie uns die nötigen Genehmigungen", schrieb er lapidar zurück.
Doch es sollte ein 24 Jahre dauernder Kampf werden. Wie bei Christo-Projekten üblich, gab es Unverständnis und Widerstand. Argument war im Kalten Krieg vor allem, der Westen könne angesichts der Teilung ein so symbolträchtiges Gebäude wie den Reichstag nicht einfach "verschwinden" lassen. Drei Bundestagspräsidenten lehnten ab. Erst mit der Wiedervereinigung öffnete sich ein Fenster der Gelegenheit. "Wir packen den Reichstag ein und nach einigen Wochen den Bundestag aus", so formulierte es der CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger 1991 mit Blick auf den gerade beschlossenen Regierungsumzug von Bonn nach Berlin.
Quer durch die Parteien blieben Gegner - allen voran der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), der vor "Kunstexperimenten" am wichtigsten politischen Bauwerk Deutschlands warnte. "So etwas tut man schlicht und einfach nicht", sekundierte der SPD-Abgeordnete Eike Ebert. 1994 gab es nach einer erhitzten Debatte im Bundestag gleichwohl eine klare Mehrheit: 292 zu 223 Stimmen.
90 Berufskletterer und 120 ausgebildete Monteure brauchten sieben Tage, um das eigens hergestellte, aluminiumbeschichtete Gewebe bahnenweise an dem mächtigen Neorenaissancebau aus der Kaiserzeit herabzulassen, zu verschnüren und mit 1000 Tonnen schweren Bodengewichten zu sichern. Der SPD-Abgeordnete Peter Conradi ist einer der ersten, der am Morgen des 24. Juni von dem Riesendiamanten fasziniert ist: "Ein Zeichen für unseren Neuanfang in Berlin."
Vierzehn Tage lang herrscht Ausnahmezustand in Berlin. Bei strahlendem Sommerwetter verwandelt sich die Wiese vor dem Reichstag in ein Volksfest - heiter, bunt und friedlich. Erstmals seit dem Fall der Mauer entsteht ein Hauptstadtgefühl. Ein solche Heiterkeit habe man den Deutschen gar nicht mehr zugetraut, schreibt die "New York Times".
Nach zwei Wochen ist alles vorbei. Trotz des gigantischen Erfolgs lassen sich Christo und Jeanne-Claude nicht überreden, ihr zeitgebundenes Werk zu verlängern. "Die Vergänglichkeit ist Teil des Projekts, ein besonders wichtiger sogar", erklärt der Künstler. Der Stoff kommt zu einer Recyclingfirma. Und am Reichstag beginnt unmittelbar danach der Umbau - nach den Plänen des britischen Architekten Norman Foster wird das Haus in einen zeitgemäßen Parlamentsbau verwandelt. Vier Jahre später tritt hier erstmals der Bundestag zusammen.
Und das Happy End? Inzwischen hat Lars Windhorst, schillernder Unternehmer und Kunstmäzen, Christos Sammlung von Fotos, Materialien und Entwürfen zu dem Projekt gekauft. Er stellt das Konvolut dem Bundestag zunächst auf 20 Jahre als Leihgabe zur Verfügung. Ab Herbst wird deshalb der "Wrapped Reichstag" in einer Ausstellung dauerhaft wieder lebendig. So, wie es sich Christo und Jeanne-Claude immer gewünscht hatten.