"Du guckst mich an, als müsste mir das etwas sagen", bekomme ich zu hören, während die Hoffnung langsam in mir schwindet, zuletzt doch noch im Second-Hand-Buchladen fündig zu werden. Hier werden gelegentlich ungelesene Rezensionsexemplare abgeworfen. Der Verkäufer auf der anderen Seite des Tresens bittet mich, den Namen der Autorin zu wiederholen, derweil schaltet sich seine Kollegin ungeduldig ein: "Komm, Kim Kardashian, die mit dem glänzenden Hintern und dem Champagnerglas ... kennst Du!" Mit welchem Rapper sie liiert ist, mag ihr nicht so schnell einfallen. "Ach, Kanye West, stimmt. Nee, das Buch haben wir nicht, ich hätte es sonst ins Schaufenster gestellt." Immerhin hätte man das Buch hier zum Verkauf angeboten.
Der Second-Hand-Buchladen im Hamburger Schanzenviertel war ungefähr meine zwanzigste Anlaufstelle auf der Suche nach dem Selfie-Wälzer mit dem programmatischen Titel "Selfish", das Anfang Mai erschienen ist. Tags zuvor noch blätterte ich in London im Laden ihres amerikanischen Verlags Rizzoli im Sommerset House durch den bebilderten Dachziegel, nur wollte ich mein Handgepäck damit nicht unnötig beschweren. Wer rechnet denn auch damit, dass Hamburgs Buchhändler den Titel nicht führen?
Als ich am Telefon nach dem Buch frage, schlagen mir von Seiten der Verkäufer Entrüstung, Gleichgültigkeit oder Ahnungslosigkeit entgegen. Man lässt mich Namen und Titel wiederholen und buchstabieren (die Männer) oder man sagt mir ganz direkt (die Frauen), dass das Buch nicht vorrätig sei, weil es nicht zu den Kunden passe, man könne es aber für mich bestellen. Allerdings würde das einige Tage, vielleicht sogar drei Wochen dauern, bis das Buch wieder lieferbar sei.
In der Kunstbuchhandlung Sautter+Lackmann finde ich ein offenes Ohr für meine Buchbeschaffungsprobleme. Der Inhaber Florian Sautter schwankt zwischen Begeisterung und Entgeisterung. Für das "Tittenmonster mit den Schlauchbootlippen" hat er nicht viel übrig, gleichzeitig bewundert er sie für ihre "Chuzpe, sich zu entblößen und zu entblöden". Und er ärgert sich, dass er das Buch nicht bestellt hat. Ich mich auch.
Indessen überschlägt sich Übersee das Feuilleton und die Kulturprominenz, natürlich hagelte es auch Kritik, aber das soll hier nicht weiter stören. Lena Dunham ritt voraus, als sie auf Instagram ein Selfie mit "Selfish" postete und sich freute: "#yeahiboughtit". Ihre 1,7 Millionen Follower ließ sie wissen, dass sie Experimente in der Erforschung weiblicher Identität unterstütze, Studentin der Popkultur sei und sowieso ließe sie sich jetzt von niemandem einreden, dass das alles beschämend sei. Kritiker versteigen sich in höchste Höhen, wenn es um Vergleiche aus der Kunst- und Literaturgeschichte geht.
Jerry Saltz kommt mit Andy Warhol um die Ecke, aber nicht etwa, weil es einer ganze Fabrik an Mitarbeitern bedarf, um ihr Äußeres in mühsamer Arbeit Tag für Tag aufs Neue entstehen zu lassen, sondern weil sie wie er eine Fiktion kreiert.
Für Megan Garber ("The Atlantic") wird Kim Kardashian zu einer Verkörperung von Duchamps Urinal, aber nicht etwa wegen der Form ihres Hinterns, sondern weil sie sich, wie Duchamp damals sein Urinal, provokativ zur Kunst erklärt. Und dann wurde das Buch noch zum "Fänger im Roggen" der Generation Instagram erklärt. In die Rolle des depressiven, an der Welt und der eigenen Sexualität verzweifelnden Holden Caulfield passt sie als berühmtestes Mitglied der Familie Kardashian denkbar schlecht, genießt sie doch die positiven Seiten des american way of life in vollen Zügen. Ist sie nicht vielmehr die kleine Prinzessin der Generation Duckface, wenn sie zu Ehren des Tages der Erde ein Bikini-Selfie mit Pflanzen postet?
Auf Instagram wird das Buch jungen Mädchen zur Bibel. Das Format stimmt fast – es ist erstaunlich klein und kompakt –, der Umfang mit über 400 Seiten auch, nur was ist mit dem Inhalt? "Selfish" predigt Narzissmus, Selbstinszenierung und schlechten Geschmack. Es zeigt tagebuchartig Selfies aus den Jahren 2006 bis 2014, meist mit wenig Klamotte, denn Bikini-Selfies mag sie besonders gern, viel Make-up und Haareschön.
Natürlich kann man diese Fixierung auf die äußere Hülle bewundern, man kann die Feminismus-Keule im Sinne von #girlssupportinggirls, #trustthegirls und #powertothegirls schwingen. Schließlich zeigt Kim Kardashians berühmtester Fan Lena Dunham, dass eigentlich nie etwas sitzt, weder das Haar, noch das Make-up, noch der BH. Kim Kardashian hingegen erfreut sich noch nachts im Bett an ihrem makellosen Make-up, da muss schnell ein Foto gemacht werden. Schnell ist gut gesagt, sie braucht gern mal 20 Anläufe, bis auch das Selfie sitzt.
Sie lebt von der Konträrfaszination, denn nicht jeder, der einen glänzenden Hintern und in Warholscher Manier seriell produzierte Selfies sieht, glaubt ein subversives postmodernes Gesamtkunstwerk vor sich zu sehen. Und so wird Kim Kardashian zu einer lebenden Version der Beuys'schen Fettecke. Da braucht es nicht einmal eine übereifrige Putzfrau, die versehentlich das Fett und damit die Kunst wegschrubbt. Abends kommt der Make-up Entferner zum Einsatz und am nächsten Tag geht wieder alles von vorne los, wenn ihr glam team, das inzwischen zu einem Teil ihrer Familie geworden ist, wie sie sagt, frisch ans Werk geht.
Die unerträgliche Seichtigkeit des Selfies hat hier zu Lande vor einem Jahr Friedrich Liechtenstein als "Selfie-Man" ausprobiert und in Buchform vorgelegt. In einem Werbefilm tanzte er durch einen Supermarkt und dann kamen mit der Berühmtheit die Menschen, die Selfies mit ihm machen wollen. Er selbst hat gar kein Telefon, wie er immer betont, aber für das Buch hat er sich eines schenken lassen. Damit hat er viele Selfies gemacht und kam darüber zu der Erkenntnis, dass das Selfie der Blumenkohl der Jetzt-Zeit ist, "es sind viele kleine Röschen, und nie sieht der geneigte Betrachter alles".
Kim Kardashian pflanzt derweil täglich weiter Blumenkohl, auf Instagram kann man ihr dabei zu sehen – sie hat knapp 35 Millionen Follower.