Zwei Filme über Hamas-Geiseln auf der Berlinale

Die Gewaltspirale dreht und dreht sich weiter

Die Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad haben gerade drei weitere aus dem Kibbuz Nir Oz entführte Männer freigelassen. Der Ort rückt auch ins Zentrum der Berlinale, mit gleich zwei Dokumentarfilmen

Zwei Kibbuzim, Nirim und Nir Oz, waren durch ihre Lage dicht am Gazastreifen besonders hart vom Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 betroffen. Mindestens 85 Menschen wurden aus den beiden Siedlungen in Israels Südbezirk entführt, fast 60 davon inzwischen wieder freigelassen, am heutigen Samstag drei Männer aus Nir Oz. 35 Menschen wurden allein in dem Kibbuz ermordet oder starben bis Anfang Dezember während ihrer Gefangenschaft im Gazastreifen.

Nir Oz bedeutet übersetzt "Neu gebrochenes Land, Neuland der Kraft". Jetzt rückt der ausgelöschte Kibbuz, von dem nur noch verbrannte Trümmer übrig sind, ins Zentrum der Berlinale, in gleich zwei Dokumentarfilmen: Im Forum erzählt "Holding Liat" von einer Entführten und dem Kampf ihrer Familie um sie. Während die Lehrerin Liat Beinin Atzili inzwischen freikam und den Film am Montag gemeinsam mit dem Regisseur Brandon Kramer vorstellt, während am Samstag auch die Geiseln Sascha Trupanow, Sagui Dekel-Chen und Jair Hornist übergeben wurden, ist David Cunio immer noch Gefangener der Hamas: In seinem "Brief an David" ("Michtav Le’David", Berlinale Special) erinnert sich der Regisseur Tom Shoval an den Mann, der 2013 Hauptdarsteller seines Regiedebüts war. In "Youth" spielten die Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio die Hauptrollen. Zwölf Jahre später sitzt ein schwer traumatisierter Eitan in den verkohlten Resten seines Heims. Eitan erzählt von der tiefen Verbundenheit mit seinem Bruder, von der Hoffnung, David und den ebenfalls verschleppten jüngeren Bruder Ariel wiederzusehen – und wie er selbst, seine Frau und die beiden Töchter den Terror im safe room des Hauses nur knapp überlebten.

Shoval zeigt Clips aus dem Casting-Prozess, bei dem er auf die Cunio-Brüder stieß und ein Jahrzehnt alte Bilder aus Nir Oz: Der Regisseur hatte den Zwillingen vor dem "Youth"-Dreh eine Videokamera mitgegeben, mit der sie ihren Familienalltag festhielten. Neben aktuellen Dokumentaraufnahmen der bangenden und hoffenden Familie sind Ausschnitte von "Youth" (Weltpremiere auf der Berlinale 2013) zu sehen. In die Spielszenen schleicht sich nach dem Terrorangriff ein unheimlicher Subtext ein: Die Cunios spielten Brüder aus prekären Verhältnissen, die eine Tochter wohlhabender Eltern als Geisel halten, um mit dem Lösegeld die Schulden der Familie bezahlen zu können. Die Gewaltspirale dreht und dreht sich weiter. Die Opfer können zu Tätern werden und umgekehrt.

Scharfe Kritik an der israelischen Regierung

Am Eröffnungs-Donnerstag erinnerten einige Prominente, darunter Andrea Sawatzki und Ulrich Matthes, an den entführten Cunio. Auch die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle hielt sein Bild mit der Aufschrift "Bring David Cunio Home" hoch. Bereits auf der vergangenen Berlinale sei das damalige Team, die Doppelspitze aus Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, um eine Solidaritätsadresse für Cunio auf der Abschlussgala gebeten worden. Tuttle entschuldigte sich jetzt dafür, dass es dazu 2024 nicht kam. Ohnehin liegt ein Schatten auf der damaligen Veranstaltung, auf der viel Israel-Kritik zu hören war, der Terrorangriff der Hamas aber nicht die leiseste Erwähnung fand.

Sehr differenziert widmen sich dagegen die beiden neuen Filme der tragischen Gesamtsituation. Dass sie die Sicht israelischer Opfer darstellen, bedeutet keinen glatten Freispruch für die Politik. Besonders differenziert betrachtet Brandon Kramer die Lage, was sicher auch mit den regimekritischen Protagonisten von "Holding Liat" zusammenhängt und der Tatsache, dass der Filmemacher mit ihnen verwandt ist. Nach dem 7. Oktober begann er sporadisch damit, die Situation der Familie zu dokumentieren, ohne bereits ein Filmprojekt im Auge zu haben. Ausschlaggebend dürfte nicht zuletzt der Kampf von Liats Vater Yehuda Beinin um seine Tochter gewesen sein. Yehuda nahm Kontakt zur US-amerikanischen Politik auf und schaffte es dank der Hilfe der Biden-Administration auch, seine Tochter freizubekommen.

Wie hier um das Leben der Entführten gerungen wird, bekommt das Publikum hautnah mit, auch die Erleichterung, Liat schließlich in die Arme schließen zu können und ebenso die Trauer um ihren Mann Aviv, der in Geiselhaft ums Leben kommt. Yehuda Beinin spart nicht mit scharfer Kritik an der israelischen Regierung und der kaltherzigen (und letztlich auf persönlichen Machterhalt ausgerichteten) Strategie Benjamin Netanjahus, der weder auf die palästinensische Zivilbevölkerung Rücksicht nimmt noch im Interesse der israelischen Familien handelt. Bemerkenswert auch Liat Beinin Atzilis Haltung nach ihrer Freilassung. Nachdem sie ihren Beruf als Lehrerin wiederaufgenommen hat, weist Liat ihre Schülerschaft auf die Not der palästinensischen Bevölkerung hin.

Ein Film sagt oft mehr als tausend engagierte Festival-Worte. Erst die Statements zu "No Other Land", der die Vertreibung der Palästinenser im Westjordanland behandelt, haben 2024 zum Eklat geführt. Und dass Tilda Swinton am Donnerstag zum Pressetermin anlässlich ihres Goldenen Ehrenbären ihre Sympathie für die BDS-Kampagne bekräftigt hat, die zum Israel-Boykott aufruft, ist auch nicht besonders hilfreich – für die neue Festivalleiterin, merklich bemüht, die Wogen zu glätten, die vom vergangenen Festivaljahr in die 75. Berlinale zu schwappen drohen. Tricia Tuttle will die Filme sprechen lassen. Sie weiß, die Bilder sind mitunter klüger als ihre Produzentinnen und Kommentatoren.