Auschwitz-Film "Zone of Interest"

Diese widerwärtige Biederkeit

Misst man die Qualität eines Films an der inneren Erschütterung, hätte "Zone of Interest" alle Oscars gewinnen müssen. Er zeigt den Familienalltag des Auschwitz-Kommandeurs Höß. Und macht das Grauen durch Auslassung greifbar

Das Schlüsselbild des Films ist eine Spirale – die Treppe, die sich ins potenziell Endlose schraubt. Wir sehen den angetrunkenen Rudolf Höß durch die barocke Szenerie wanken. Zweimal versucht er, ins Treppenhaus zu kotzen, erfolglos. Dann der kühne Schnitt ins Jahr 2023: Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau reinigen eines der Krematorien. 

Hinter Museumsglas ist der bedrückende Berg von Schuhen zu sehen. Und noch einmal springen wir acht Jahrzehnte zurück, zu Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, der alles weiß und nichts begreift. Der jetzt stumpf ins leere Stiegenhaus blickt. In seinem vierten Spielfilm entwirft der britische Regisseur Jonathan Glazer das Bild einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Die Shoah liegt lange zurück. Die Shoah ist nur einen Wimpernschlag entfernt. 

Zeit ist hier wie eine Helix; die Entfernung zwischen zwei Punkten ist relativ. Misst man die Qualität eines Films an der inneren Erschütterung, die er auslöst, hätte Jonathan Glazers Meisterwerk alle fünf Oscars gewinnen müssen, für die er nominiert war. Immerhin reichte es für die Preise für den "Besten internationalen Film" und den "Besten Ton".  "Zone of Interest" führt uns in das "Interessengebiet des KZ Auschwitz", wie die SS das Sperrareal um das Vernichtungslager im deutsch besetzten Polen bezeichnete. Ein Euphemismus für das Herz der nationalsozialistischen Finsternis, mit dem die ersten Bilder einer Familie beim sommerlichen Picknick am See so gar nicht zusammenpassen wollen. 

Das Grauen wie lästige Insektenschwärme

Die Kinder baden, die Eltern dösen in der Sonne, im Abendrot schlendert man zurück zum Auto, um heimzufahren ins private Reich. Rudolf und Hedwig Höß (Christian Friedel und Sandra Hüller) sind junge Eltern, die mit ihren fünf Kindern in einer schmucken Villa mit großem Garten wohnen, direkt an den Mauern des Vernichtungslagers. Obersturmbannführer Rudolf Höß reitet morgens zu Pferd zur Arbeit. Er liebt Tiere. Hedwigs ganzer Stolz ist ihr Garten, die Obstbäume und Gemüsebeete, das Gewächshaus.

Der Wachturm, der hinter dem Grundstück aufragt. Die unsichtbaren Deportationszüge, die Rauchspuren in den Himmel schreiben. Der nächtliche Flammenschein der Öfen. Das Grauen von nebenan ist für die Höß’ wie lästige Insektenschwärme. Man lebt damit, und man lebt ja nicht schlecht. Die Schüsse, Schreie und das unablässige dumpfe Brodeln der Leichenverbrennungen vernehmen offenbar nur wir im Publikum. Die Familie bleibt ungerührt, verstörend bürgerlich und "normal". 

Glazers Familienszenen erinnern an Hannah Arendts Wort von der "Banalität des Bösen". Natürlich bekommt man in keinem Moment die nicht-"arischen", die auseinandergerissenen, zerstörten oder schon ausgelöschten Familien aus dem Kopf. Während Kindergeburtstag gefeiert oder Unkraut gejätet wird, läuft einen Steinwurf entfernt die Mordmaschine.

Die Kamera bleibt außen vor

Anders als Steven Spielberg 1993 in "Schindlers Liste" verzichtet Glazer in seiner sehr freien Verfilmung von Martin Amis’ umstrittenem, satirischem (!) Roman "Interessengebiet" auf jedes Reenactment der Zustände im Lager. Die Kamera bleibt außen vor, anders auch als bei László Nemes in "Son of Saul" (2015), der mit Nahaufnahmen den visuellen Schrecken in Unschärfe tauchen lässt und das Grauen über die Tonspur vermittelt. Denn auch auf der Akustikebene (Sound: Johnnie Burn) arbeitet Glazer ungeheuer subtil. 

Im Vordergrund das Vogelzwitschern, aus der Ferne viel Undefinierbares, Geräusche, die nur mit Vorwissen zu entschlüsseln sind. Die Spannung jedoch zwischen jenem, was wir wissen und dem, was sich vordergründig abspielt, grenzt ans Unerträgliche. Und das, obwohl uns auch die Kamera von Łukasz Żal auf Distanz zu den Figuren hält. Unbewegt, mit Abstand und in Agfacolor-kühlen, oft symmetrisch komponierten Tableaus registriert die Digitalkamera den biederen Irrsinn der Auschwitz-Anrainer. 

Nur einmal rührt sich die Kamera, folgt einem Häftling in seitlicher Fahrt, als der KZ-Insasse mit einer Schubkarre voller Kleidungsstücke Ermordeter über den Gartenweg rollt. Hedwig wird etwas Unterwäsche an das polnische Hauspersonal verschenken. Später probiert sie vorm Spiegel einen Pelzmantel aus derselben Fuhre an. Um dann festzustellen, dass der Mantel noch gereinigt werden muss. 

Überall ist der doppelte Boden eingezogen

Sauberkeit und Hygiene sind in diesem Kontext natürlich abgründig. Überall ist der sprichwörtliche doppelte Boden eingezogen. Jedes Ding, jeder Satz, jede Geste ist mehrdeutig. Der kleine Hans wird in der Badewanne abgeschrubbt und jammert. Vater Höß hatte im Fluss, in dem seine Kinder badeten, einen menschlichen Unterkieferknochen und verklumpte Asche entdeckt, die Kleinen aus dem Flusswasser gezogen und gründliche Reinigung angeordnet. An einer anderen Stelle spült ein Gehilfe das Blut von den Stiefeln des Kommandanten. Sein ältester Sohn Klaus knipst abends unter der Bettdecke die Taschenlampe an und betrachtet eine Reihe von Goldzähnen, die aus der Nachbarschaft stammen.

In einigen Dialogen wird Klartext über das Morden gesprochen – und ins Beläufige heruntergespielt. Etwa in einer Szene, in der ein angereister Ingenieur Höß die Funktionsweise eines neuen Krematoriums erklärt und dabei statt von Menschen von Brennmaterial spricht, das Ganze im lockeren Duktus einer Powerpoint-Präsentation. Wirklich: Glazer hat von den in der Originalfassung deutsch und polnisch sprechenden Darstellern keine authentisch-historische Redeweise verlangt. Sie reden wie wir.

"Rudolf nennt mich die Königin von Auschwitz", erzählt Hedwig ihrer Mutter süffisant, die auf Besuch aus Berlin angereist ist und über Hedwigs "Paradiesgarten" staunt. Und Hedwigs Mann regt sich darüber auf, dass SS-Leute Blüten aus den Fliederbüschen der Gegend zu rupfen pflegen. Da bluten die armen Pflanzen aus, sagt Rudolf Höß. Wenig später gibt es eine saatgutkataloghafte Sequenz von Nahaufnahmen von Blüten aus Hedwigs Paradiesgarten. Die Blumen der Bösen.
 
Gegenbild von Mut und Mitleid

Glazer erzählt nicht klassisch-linear, sondern in Ellipsen, angesichts der Pseudo-Alltäglichkeit im Hause Höß könnte man von Genreszenen sprechen. Es gibt stilistisch abgesetzte Unterbrechungen. In schwarz-weißen Negativbildern sehen wir eine Heranwachsende aus einer anderen Familie, die Äpfel für Zwangsarbeiter versteckt. Ein Gegenbild von Mut und Mitleid. Ohne einen solchen Kontrapunkt wäre "Zone of Interest" nicht auszuhalten.

Was den Film, der frei von offener Gewalt ist, so schwer erträglich macht, ist das Schamgefühl, das Glazer erzeugt. Die Höß’ sind zum Fremdschämen ungerührt. Ein merkwürdiges Gefühl. Wer sich fremdschämt, den erfasst die Scham, als wäre sie die eigene. Wo man doch gar nichts "dafür" kann. Wir sind’s doch nicht gewesen.

Noch einmal: Glazer hebt die Historizität des Geschehens auf. In einem historisch korrekten Film über das Höß-Ehepaar wären der weiche Christian Friedel und die nie auftrumpfende Sandra Hüller womöglich fehlbesetzt. "Zone of Interest" unternimmt keine Geschichtsrekonstruktion. Eher ein Versuch über die Brüchigkeit der Zivilisation; und die Versuchsobjekte sind wir.

Am absoluten Nullpunkt

Wir leben in einer Zeit gefährdeter Demokratien und gespaltener Gesellschaften. Selbst die Deutschen, lange Zeit vermeintlich immun gegen die Pläne autokratischer Kräfte, erleben einen Rechtsruck. Antisemitismus und Rassismus nehmen zu. Im Bundestag und in den Länderparlamenten ist eine Partei vertreten, die teilweise rechtsextreme Positionen vertritt. Bestürzende Mehrheiten dafür zeichnen sich in Umfragen ab. Und, der Lichtblick, Hunderttausende demonstrieren gegen jene, die das friedliche Zusammenleben und die Grundrechte sabotieren wollen.

Die extreme Konsequenz solcher Bestrebungen zeigt die Geschichte, und Glazers Film führt uns an diesen absoluten Nullpunkt heran. Die Kälte, die von Sonnenblumen gesäumte Friedhofsruhe, das grundfalsche Gartenparadies, all das verstört – und macht zugleich hellwach. "Zone of Interest" gehört auf den Lehrplan an Schulen.

Erleben wir gerade Weimar 2.0? Es heißt ja, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Doch sie holt die Nachgeborenen manchmal ein. Als geometrische Figur wäre sie weder ein Kreis noch eine Gerade; Geschichte ist eine Spirale. Wie das Treppenhaus, in dem Rudolf Höß seiner begrenzten Zukunft entgegenstarrt. Der echte Höß wurde am 2. April 1947 auf dem Auschwitz-Gelände vor seiner ehemaligen Residenz gehängt, ohne Binde vor den Augen, mit Blick auf das Lager. 

Ein geradezu pervers freundlicher Massenmörder-Familienvater

Die Filmfigur hat kein (solches) Ende. "Zone of Interest" erzählt keine abgerundete Story, dies ist kein Historienfilm und auch weit entfernt von einem Täterporträt. Christian Friedel verkörpert einen geradezu pervers freundlichen Massenmörderfamilienvater, wie er nicht sein kann, oder doch zumindest nicht sein darf. 

In einem perfekt perfide konstruierten Meisterwerk, das einem Zeitlupenfaustschlag in die Magengrube gleichkommt oder einem erzwungenen Blick in den Abgrund. Wie Nietzsche schreibt: "Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein". Glazer zielt eben nicht auf historische Genauigkeit, sondern auf uns. Dass wir die Scham empfinden. Auschwitz ist im Jetzt.