Sammlung Grässlin in St. Georgen

XXL-Pillen im Birkenwäldchen

Tobias Rehberger "Thomas", 1999/2009, Herbert Brandl "Kusamono", 2021
Foto: Wolfgang Günzel / © Stiftung Grässlin und die Künstler

Tobias Rehberger "Thomas", 1999/2009, Herbert Brandl "Kusamono", 2021

Die Kunst der Sammlung Grässlin gedeiht im gesamten Städtchen St. Georgen im Schwarzwald. Nun fragt eine neue Schau nach Bildern, die wir uns von der Natur machen - und zeigt Klassiker genauso wie Neuentdeckungen

Die Werkbeschreibung von Mark Dions "The Library for the Birds of Antwerp" ist zum Glück nicht auf eine bestimmte Zahl festgelegt. "Lebende Vögel" steht dort lediglich notiert, neben Baum, Keramikkacheln, Kanister, einer präparierten Ratte und Schnecken, Patronenhülsen, Axt, Vogelnetzen, Vogelkäfigen, Wachsfrüchten und Büchern.

Das Finkenpaar, das die Installation derzeit bewohnt, soll jedenfalls gerade Nachwuchs gezeugt haben. Ob es ihnen besonders gut gefällt zwischen den Behausungen und schadlos gemachten Gefahren, den Objekten menschlichen Jagens und Sammelns? Ob ihnen gleichgültig ist, wo sie ihr Revier aufschlagen, hinter Gittern oder draußen, im Ausstellungsraum oder im Zoo?

Mitten in das Naturbild grätscht die belebte Natur, die natürlich eine domestizierte ist, aber deshalb noch lange nicht vollends eingehegt. Zu sehen gibt es Dions Vogelbibliothek jetzt in der Bahnhofstraße 64a, zweites Obergeschoss, im Schwarzwald-Städtchen St. Georgen. Hier hat die Sammlung Grässlin gerade ihre große, zweijährliche Kunstpräsentation im öffentlichen und auch privaten, aber der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Raum eröffnet (sogar durch das Wohnhaus der Unternehmerfamilie kann man nach Anmeldung streifen und dort Malereien von Herbert Brandl, Andreas Breunig und Jean Fautrier sowie die geblümten Vasenskulpturen von Tobias Rehberger anschauen).

Falsche Vorstellungen werden konterkariert

In den vergangenen Jahren wurden im Wechsel monografische und thematische Ausstellungen konzipiert. Die Gruppenschau "Painting Nature" handelt nun von jenen Bildern der Sammlung, die sich Künstlerinnen und Künstler im Laufe der letzten Jahrzehnte von Natur und Landschaft machten – mal mehr, mal weniger wörtlich. Erste Arbeiten aus der von den inzwischen verstorbenen Eltern Anna und Dieter Grässlin begonnenen Kunstsammlung sind ebenso dabei wie aktuelle Werke, die jüngsten noch aus 2022. 

Ausstellungsorte verteilen sich im gesamten Stadtgebiet. Als die Grässlins ihre Kunstrundgänge durch St. Georgen begonnen haben, waren es noch einige mehr als heute – in leerstehenden Ladengeschäften, lange bevor der Leerstand zum beliebten Spielraum für Kunstvorhaben wurde. Der holzvertäfelte Plenarsaal des städtischen Rathauses wird bis heute bespielt. Dauerhaft hinzugekommen ist außerdem eine ehemalige Unternehmenszentrale, in deren Erdgeschoss durch ein Schaufenster gut einsehbar Michael Beutlers Arbeit "Rinde" Strohreste in Röhren mit Aluminiummantel verpackt und ansehnlich im Raum drapiert.

Zur Eröffnung führen zwei Töchter der Familie durch die neue Schau: Karola Kraus, Direktorin des Mumok in Wien, und Bärbel Grässlin, Galeristin in Frankfurt. Die dritte Schwester Sabine Grässlin lebt in St. Georgen, wo sie bis Ende 2022 das Restaurant "Kippy’s" im Ort betrieben hat. Benannt, natürlich, nach einem der Lieblingskünstler und Freunde der Familie, Martin Kippenberger. Es geht durch die Straßen des architektonisch semi-idyllischen, ehemals von Industrie geprägten Örtchens, an dem die Dorfjugend gerade sehr zeitgenössisch Stadtfest feiert - wie, um alle falschen Vorstellungen ruhesuchender Großstädter über das Leben auf dem Land zu konterkarieren.

Kunstpilze als Zuflucht

Und natürlich ist gerade deshalb hier der beste Ort für eine solche Schau: Mit dem neo-romantischen Bild einer widerspruchsfreien Natur, wie sie gerade ein bisschen Renaissance feiert (frei nach Peter Kubelkas Schmähzusammenfassung: "Natur ist immer nur lieb!"), hat diese Kunstschau wenig zu tun. Möglich, dass Cosima von Bonins comic- oder märchenhaft vergrößerten Pilzskulpturen, die geradezu kindliche Freude beim Betrachten auslösen, so vielleicht mehr über das Verhältnis zwischen Mensch und Myzelium erzählen als die Formate, in denen Pilzgeflechte im zeitgenössischen Ausstellungsbetrieb gerade als prophetische Naturwesen vorgebracht werden. Neben einer Gruppe aus handgenähten Stoffpilzen hat die Künstlerin zwei neue Exemplare aus weiß gestrichenem Beton geschaffen, deren Schirme an diesem Tag Zuflucht vor einem plötzlichen Schwarzwälder Regenguss bieten.

Ebenfalls in der Bahnhofstraße 64a aufgereiht liegt die Land Art von Richard Long, dessen Bruchplatten aus Ruhrsandstein nun visuell in der titelgebenden Arbeit von Heimo Zobernig münden, die "Painting Nature" verkündet oder behauptet. Tiere wiederum tauchen bei Mark Dion ja leibhaftig auf, aber auch als Vorstellung beispielsweise in Rachel von Morgensterns "Fledermäusen": Hier huschen knalliges Pink, Gelb, Blau über schwarz-transparenten Polyestergrund. Als ob die namensgebenden Tiere ihre Flügel kurz in Farbe getaucht hätten und an der Leinwand vorbeigeflattert wären.

Unverhofft, fast erschreckend tritt plötzlich der Mensch ins Landschaftsbild, und zwar bei Tobias Rehberger. Der Titel seiner ebenfalls aus letztem Jahr stammenden Wollarbeit "Orli Reichert Wald in blooming cherry tree" entschlüsselt, wessen Konterfei sich reliefartig aus der pittoresk anskizzierten Kirschblüten-Szenerie erhebt: Es ist die Widerstandskämpferin und NS-Verfolgte Orli Reichert-Wald, die im Häftlingskrankenbau des KZ Auschwitz arbeiten musste und hier von Mithäftlingen "Engel von Auschwitz" genannt wurde.

"Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald"

Einigen konnte sie das Leben retten. Warum erschreckt es nun derart, wie sich das Porträt der Überlebenden aus dem Wollflor in den Raum erhebt? Die Idealisierung von Landschaft und der Wunsch, ihr Bild vermeintlich ursprünglich und menschenfrei zu halten, war kennzeichnend für die nationalsozialistische Ideologie, aber ähnliche Vorstellungen sind vielerorts virulent. Sie bergen bis heute Konfliktstoff in den kolonial geprägten Naturschutzvorhaben Afrikas, in denen die Bedürfnisse von Bewohnerinnen und Bewohner der jeweiligen Regionen bisweilen als zweitrangig gelten.

Von hier aus führt ein fast schon zwingender Schritt zum Wald, dem deutschen Landschaftsbild par excellence, dessen künstlerische Ableitungen sich jetzt im benachbarten Kunstraum Grässlin begutachten lassen: Bäume, soweit das Auge reicht, in unterschiedlichen Abstraktionsstufen zum Beispiel bei Albert Oehlen. Raumfüllend die natürlich wunderbare und schon in verschiedenen Kontexten gezeigte Kippenberger-Installation "Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald" – die Baumrinde simuliert ein Mantel aus Birkenrindenfotodruck, dessen Schwarz-Weiß-Strukturen sich in einer Fotoserie von Günther Förg an der Wand ringsum widerspiegeln. Eine doppelte und dreifache Folie des Waldes, der ja hierzulande meist ein Forst ist.

Auch ein Landschaftsraum bleibt ein Raum, in den man sich hineinsehnt. Wobei der im Titel anklingende, mystische Drogen-Naturtrip sich womöglich bloß als Mittel gegen Kater herausstellen könnte; am Fuße der Birkenstümpfe finden sich hölzerne XXL-Pillen mit unter anderem Alka-Seltzer-Prägung.

Alles hier ist fake, Attrappe oder Zitat

Apropos Kippenberger: Leider verpasst haben wir an diesem Tag den nach seinen Plänen erstellten, sagenumwobenen U-Bahnschacht mitsamt passenden Geräuschen auf der grünen Wiese, der die Schwarzwälder Kleinstadt mit den Mitteln der Kunst nun endgültig ans Netzwerk der Metropolen anbindet. Solche Dauerinstallationen aus der Sammlung Grässlin gibt es einige in St. Georgen zu entdecken. Auch am Bahnhof, wo unter anderem Julian Turners "House of Flowers" ein neues Zuhause gefunden hat.

Ein Aufenthaltsräumchen stellt sich als Installation des Wiener Künstlers heraus – alles hier ist fake, Attrappe oder Zitat. Die gekachelten Wände setzen sich aus Kaugummidragee-Fotografie zusammen, Pokale und folkloristische Schnitzereien rekurrieren auf ähnliche Artefakte im Museum der Geschichte Jugoslawiens.

Derweil fährt ein Zugmodell nirgendwo mehr hin. Das Haus der Blumen im serbischen Belgrad, in dem sich das Mausoleum des letzten jugoslawischen Staatsführers Josep Broz Tito befindet, ist heute Teil eines historischen Museums. Aber auch Pilgerstätte für jene, die dem untergegangenen Land nachtrauern. Die titelgebenden Pflanzen, tropisch-üppige Gewächse wie aus einem Fassbinder-Filmset, wachsen hier unbeeindruckt jeder Zeitgeschichte fort.