Bauprojekte im Zeitraffer

Stand das schon immer da?

Ein Fotoprojekt hat über 15 Jahre die architektonischen Veränderungen einer typischen Schweizer Kleinstadt dokumentiert. Das dazugehörige Buch ist ein schlaues Plädoyer fürs genaue Hinschauen 

Eines Tages sind sie plötzlich da: Mehrfamilienhäuser, Gewerbeanlagen, Einkaufszentren, Kinderspielplätze, manchmal ganze Wohnquartiere und Bürotürme. Doch natürlich materialisieren sich hier nicht plötzlich dreidimensionale Strukturen wie von Zauberhand. Man müsste nur eben mal die Zwischenzustände betrachten, die zwischen A und B, zwischen grüner Wiese und Wohnquartier, zwischen Kindergarten und UBS-Großgebäude liegen.

Ein Band aus dem Verlag Scheidegger & Spiess unternimmt jetzt diesen Versuch: "Stadtwerdung im Zeitraffer" ist eine fotografische Langzeitbeobachtung im Raum Schlieren, einer Kleinstadt im Kanton Zürich, Zeitraum 2005 bis 2020. Ein wenig aufregender Durchschnittsort, in dem keine bombastischen urbanen Transformationen wie beispielsweise in den chinesischen Superstädten zu erwarten sind, die plötzlich aus dem Boden gestampft werden.

Und trotzdem verändert sich die gebaute Umgebung, merklich und sukzessive. Diese Entwicklung wird hier in Bildern und Essays eingefangen. Beide übrigens getrennt voneinander: Im Pappschuber liegen ein Hochformat, in dem alle Texte versammelt sind. Und ein Querformat, in dem die Siedlungsentwicklung jener durchschnittlichen Stadt im Schweizer Mittelland an 69 Standorten über 15 Jahre fotografisch festgehalten wurde. Dies nach standardisierten Aufnahmeparametern, die der menschlichen Wahrnehmung des Stadtraums Rechnung tragen. So wurde die Kamera etwa auf Augenhöhe platziert, die Brennweite liegt im moderaten Weitwinkelbereich, der Bildraum ist gleichmäßig ausgeleuchtet, der Himmel bedeckt. Der Aufnahmestandort liegt, ebenfalls erwähnenswert, auf öffentlichem Grund.

Eine nötige Entzauberung

Als Ergebnis stehen Bilder, die weder verschleiern noch dramatisch hervorheben wollen. Die Vergleichbarkeit der Einzelbilder im Zeitraffer ermöglicht zugleich einen geschärften Blick. Unweigerlich registriert man, welche Holzscheune abgerissen, welcher Kindergarten offenbar geschlossen wurde, wo neuer Wohnraum entstand. Politisch höchst aufgeladene Begriffe wie Gentrifizierung, demografischer Wandel, Zuwanderung, Familienfreundlichkeit und so fort erhalten ganz praktische Anschauung und womöglich auch erst einmal nötige Entzauberung.

Denn all dies ist – so banal es klingen mag – von Menschen gebaut und geplant, in Stadträten diskutiert und abgesegnet, hoffentlich von verschiedenen Akteuren sorgfältig durchdacht und gegen alternative Optionen abgewogen worden. "Stadtwerdung im Zeitraffer" setzt nun dort an, wo jene Bauvorhaben im öffentlichen Raum nach und nach sichtbar werden. Aber schon diese Verdeutlichung der Einzelschritte gab es bisher wohl kaum so unaufgeregt und über einen festgelegten Zeitraum konsequent zu sehen. Für die Beschreibung jener Zustände, auch das wird in den begleitenden Essays deutlich, braucht es bisweilen überhaupt erst einmal das richtige Vokabular. Das Doppel-Buch mit seinen übrigens keineswegs nur nüchternen Textbeiträgen ist somit auch Annäherung ans eigene Sujet.

Mit dem Vorhaben, zu zeigen, was ist, bietet die fotografische Langzeitbeobachtung, wie sie hier im Untertitel anklingt, natürlich auch ein Potenzial, das über den konkreten Titel hinausweist. Das schicksalhaft erscheinende Phänomen namens Stadtplanung wird ins greifbare Konkrete überführt. Somit ist "Stadtwerdung im Zeitraffer" ein Plädoyer für ebenjene fotografische Langzeitbeobachtung. Und zugleich dafür, sich jedenfalls in diesem Bereich nicht mit einem Einzelmotiv, der beliebtesten Erscheinungsform spektakulärer Architektur wie spektakulärer Fotografie, zu begnügen.