Graffiti in Offenbach

Selbstbeauftragte Kunst in den Nischen der Stadt

Graffiti schärfen unsere Wahrnehmung von ungenutzten Stadtflächen. Heiner Blum von der Hochschule für Gestaltung Offenbach bespielt mit seinen Studierenden solche Nischen 

Graffiti verändert die Stadtwahrnehmung. Damit ist nicht gemeint, dass die Stadt bunter wird oder schmutziger – das ist Ansichtssache. Graffiti verändert die Wahrnehmung der Stadt als Benutzeroberfläche. Wer in der Höhe einer kahlen Hauswand auf einmal große Schriftzeichen sieht, der entdeckt plötzlich auch den kleinen Vorsprung, auf den die Person gestiegen sein muss. Man denkt über die Verteilung von Leere anders nach, man sieht plötzlich Möglichkeiten, die ergriffen wurden, das zu ändern.

Wer einen Schriftzug immer wieder sieht – an Eisenbahnlinien, Brückepfeilern oder in Tunnels – der bekommt ein Gefühl für ein regionales Territorium. Im Raum Frankfurt ist AK47 ziemlich verbreitet, seit über einem Jahrzehnt gibt es die Crew. In Berlin haben 1UP ihr Zentrum, sie agieren weltweit. Von Hamburg aus arbeiten Moses & Taps, und das sind nur die Berühmten. Hat man einmal angefangen, die einzelnen Schriftzüge zu unterscheiden, kann man nicht mehr raus aus dem Netz der Zeichen, und die Stadt verändert sich. Nicht auf der Oberfläche, sondern grundsätzlich.

Heiner Blum ist Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und Spezialist für Nischen. Seit vielen Jahren findet und bespielt er sie mit seinen Studierenden. Dabei geht es ihm immer um die Verzahnung mit dem Standort Offenbach, das als dichtes, sehr diverses Terrain gilt. Seit November gibt es auf der Fußgängerzone unter Heiner Blums Leitung den Projektraum Diamant. Ein leerstehendes Haus, das einer Juweliersfamilie gehört, der Laden im Erdgeschoss wurde aufgegeben. Jetzt liegen in den Schmuckvitrinen extradicke Rapper-Ketten und Nietensonnenbrillen.

Es geht um Straße, Wände, Style, um Ausdruck

Unter anderem ein Modelabel hat sich hier im Diamant formiert, Kennzeichen: Bomberjackenärmel. Das harte Image der Stadt als Fashionstatement, das auf Fashion keinen Wert legt, und gerade deshalb ziemlich gut aussieht. Gerade ist die Zeitschrift "Vogue Offenbach" erschienen, pralle 300 Seiten mit Mode von der Straße. Die Fotografin Vlada Shcholkina und ihr Team haben die Menschen auf der Straße angesprochen. Unter der Woche gibt es hier im Diamant Spickzettel-Workshops für Schülerinnen und Schüler, zugleich laufen hier Videos von Gordon Matta-Clark. Aktuell werden Werke von Michael Riedel oder Tobias Zielony gezeigt. Es geht um Straße, Wände, Style, um Ausdruck, der sich nicht um "high" oder "low" kümmert.

Seit kurzem gibt es außerdem das Fahrradparkhaus im Stadtzentrum, einen Block vom Diamant entfernt liegt die großflächige Parkgarage mit vielen weißen Wänden. Heiner Blum hat die Kunst dafür veranlasst: Graffiticrews und sprayende Individuen, manche sind auch "legale" Künstler. Benedikt Rugar hat eine Schwarzweiß-Zeichnung an die Wand gemalt, normalerweise ist er international gefragter Illustrator für Magazine. Größen wie Delta, Dorian Winkler, Dominik – im Ausstellungswesen der zeitgenössischen Kunst sind sie unbegreiflicher Weise noch kein echter Begriff, umgekehrt verhält es sich durchlässiger. Für viele von ihnen ist der Maler David Ostrowski eine wichtige Größe. 

Auch die in der Kunstklasse bei Mike Bouchet studierende Malerin Sonya Rychkova ist vertreten – die Rückenansichten von starken jungen Männern, die sie ausschließlich in "Kasseler Braun" malt, hat sie diesmal direkt auf die Wand aufgetragen.

Spiel mit der Unlesbarkeit

Moses & Taps zeigen eine ÖNV-Digitalanzeige, bei der sich die Zeichen so überlagern, dass nichts mehr erkennbar ist. Verschlüsselung spielt auch bei Il-Jin Atem Choi eine Rolle – seine lineare Zeichnung ist erst aus vielen Metern Abstand lesbar. Das Spiel mit der Unlesbarkeit funkt nach innen und außen zugleich: an die ergrimmten Spurenleser, und an die eigene Szene. In der Fahrradgarage ist alles legal, auch Klarnamen tauchen auf. "Selbstbeauftragte Kunst" nennt Heiner Blum Graffiti, und er legt extra Wert darauf, die Kunst und Graffiti zusammen zu zeigen. Zu unterscheiden sind sie auch wirklich nicht. 

Auf dem Rückweg am Main entlang kommt man am Baugrund der neuen Hochschule für Gestaltung vorbei, vor wenigen Monaten wurde ein Siegerentwurf gekürt, Umzug ist in ein paar Jahren. Die Hochschule für Gestaltung ist in Offenbach schon lange ein Energiezentrum, darüber hinaus wird sie es immer mehr. Auf der Baustelle sind ein paar Graffitis an den Wänden des Hafengeländes. 1UP aus Berlin waren also auch schon hier, kein Wunder.