"Lonelygirl15", 2006-2008
Lonelygirl15 gilt heute entweder als eine der ersten großen Internetlügen – oder als geniales Kunstprojekt. Hinter dem Account der jugendlichen Bree Avery, die 2006 in kurzen Vlogs von ihrem Teenager-Leben erzählt, steckte ein sorgsam choreografiertes Drehbuch, entwickelt von Miles Beckett, Mesh Flinders, Greg Goodfried und Amanda Goodfried.
In den Videos erzählt Bree von ihrem Homeschooling-Alltag, bis die Geschichte dann eine Thriller-ähnliche Wende nimmt: Die Jugendliche findet heraus, dass die mysteriöse Religionsgemeinschaft ihrer Eltern es auf ihr Blut abgesehen hat – und nimmt das Youtube-Publikum mit auf ihre Flucht. 2007 entlarvt die "Los Angeles Times" die Geschichte als Fake; in diesem Jahr erreicht das Projekt seine höchsten Zugriffszahlen.
Keyboard Cat, 2007
Das Internet liebt Tiere – vor allem Katzen, die unerwartet lustige Dinge tun. Diese hier, die ein T-Shirt anhat und so aussieht, als würde sie mit grumpy Blick Keyboard spielen, brachte es zu besonderer Bekannt- und Beliebtheit. Eigentlich stammt das Video der Katze Fatso, deren Pfoten von ihrem Besitzer bewegt werden, schon aus dem Jahr 1984. Erst 20 Jahre nach dem Tod der Katze ging das Video dann auf Youtube viral – und hält sich bis heute als eines der bekanntesten Video-Memes.
Gotye feat. Kimbra, "Somebody That I Used To Know", 2011
Was wäre Youtube ohne Musikvideos? Der Clip zum Song "Somebody That I Used To Know", inszeniert und produziert von der australischen Künstlerin Natasha Pincus, zeigt Gotye und Kimbra während des gesamten Videos nackt.
Während sie singen, wird ihre Haut im Stop-Motion-Stil bemalt. Inspiration für die Muster, die nach und nach ihre Körper bedecken und sie mit dem Bild im Hintergrund verschmelzen lassen, ist übrigens ein Werk vom Vater des Sängers, das auch die Vorlage für das passende Albumcover darstellte. Bis die beiden Darsteller ganz angemalt waren, soll es 23 Stunden gedauert haben. Das Video, das heute über zwei Milliarden Mal geklickt wurde, trug einen großen Teil der Popularität des Songs bei.
Psy, "Gangnam Style", 2012
Das Musikvideo zu dem K-Pop-Song "Gangnam-Style" ist das erste Youtube-Video, das die Marke von einer Milliarde Streams erreichte. Insbesondere die Choreografie zu dem Song machte das Video populär und führte zu zahlreichen Nachahmungen, Flashmobs und Parodien (die dann wiederum auf Youtube landeten).
Dabei ist sogar der Song selbst eine Parodie auf den luxuriös-verschwenderischen Lebensstil, für den der Bezirk Gangnam im südkoreanischen Seoul bekannt ist. Der Erfolg des Musikvideos und die damit aufkommende Begeisterung für koreanische Kultur führte noch im Erscheinungsjahr zu einem enormen Anstieg des Außenhandels für Südkorea.
"Open Door", seit 2013
Youtube hat zahlreiche speziell für die Plattform entwickelte Formate hervorgebracht, die auf hohem Niveau produziert werden. Eines, das schon seit zwölf Jahren läuft und sich seither großer Beliebtheit erfreut, ist die Serie "Open Door" des Architektur-Magazins "Architectural Digest", bei der Prominente ihre Haustüren öffnen und durch ihre – exzentrischen, bis ins kleinste Detail durchgestylten und unberührt wirkenden – Heime führen.
Wer wollte nicht schon immer mal wissen, wie das Schlafzimmer von Naomi Campbells Villa in Kenia, die Marmor-Bar von Gwyneth Paltrows Landhaus oder Sophia Vergaras Badezimmer mit frei stehender Wanne aussieht? Besonders viel Aufsehen erregte die Roomtour mit Emma Chamberlain, die selbst als Youtuberin bekannt wurde.
Sie präsentiert ihr Haus mit Beistelltischen aus übergroßen Maiskolben, reich gefüllten Obstschalen und einem beeindruckenden Poolhaus. Das Format bietet beides: Das Gefühl, Einblicke in eine privat-versteckte Welt zu bekommen – und die Performances von trainierten Medien-Personen, bei denen man sich fragt, ob sie den Herd in ihrer auf Hochglanz polierten Landhaus-Küche überhaupt schon mal benutzt haben.
"10 Hours of Walking in NYC as a Woman", 2014
Mitte der 2010er-Jahre fand sich eine Welle an Videos auf Youtube, in denen Frauen sich dabei filmen ließen, wie sie draußen unterwegs waren. Das wäre erstmal nicht ungewöhnlich, würden die Videos nicht so deutlich zeigen, wie oft sie dabei verbal belästigt werden.
Die Clips waren der Startschuss für aktivistische Online-Kampagnen, in denen Privatmenschen auf Unrecht aufmerksam machen oder bekannte Menschen ihre Reichweite für den guten Zweck nutzen. Immer wieder sind solche Clips in den vergangenen Jahren viral gegangen und haben Debatten angestoßen. Das Video "10 Hours of Walking in NYC as a Woman" zeigt Einschüchterungsversuche, catcalling und Bedrohungen, denen die Macherin ausgesetzt war. Die Kürze des Zusammenschnitts macht besonders drastisch deutlich, was für viele Frauen bis heute Alltag ist.
Billie Eilishs Interviews mit "Vanity Fair", seit 2017
Billie Eilish gehört zu den Popstars, die als Kinder und Jugendliche durch das Internet berühmt wurden. Mit ihrem gewisperten Gesang, der speziellen Melancholie und ihren schrägen Oversize-Klamotten wurde sie schnell zur Marke. Seit 2017 veröffentlicht das Magazin "Vanity Fair" einmal pro Jahr ein Interview mit ihr – und lässt die Welt so beim Aufstieg und Erwachsenwerden der "Bad Guy"-Sängerin zuschauen. Die Reihe zeigt zum Beispiel eine 15-Jährige mit 250.000 Followern auf Instagram, die sich selbst rät: "Don't be sad, it's such a waste of time." Daneben die 16-jährige Billie Eilish mit zahlreichen Stachel-Ketten um den Hals, die erzählt, wie sich anfühlt, nirgendwo hingehen zu können, ohne erkannt zu werden. Sie hat seit dem ersten "Vanity Fair"-Video drei Studioalben veröffentlicht, mittlerweile über 120 Millionen Follower und wurde mit zwei Oscars ausgezeichnet.
Lofi-Girl, seit 2018
Über Youtube-Livestreams, die rund um die Uhr laufen, kann man der japanischen Animation eines jungen Mädchens zusehen, die mit Kopfhörern an einem Schreibtisch sitzt und konzentriert schreibt. Begleitet werden die Videos von Lo-Fi-Hip-Hop-Musik, die durch den Stream nicht unterbrochen wird. Dadurch eignen sie sich besonders gut als Hintergrund zum Arbeiten oder Lernen. Zahlreiche "Study with me"-Streams, die später als Video hochgeladen werden und die Sessions in oft exzessiver Länge zeigen, sind bei vielen beliebt, um sich beim Lernen weniger alleine und sozial kontrolliert zu fühlen. Diese parasoziale Beziehung wirkt, wie Studien zeigen, auch bei fiktiven Charakteren wie dem Lofi-Girl.
Rihannas "Super Bowl" Halftime-Show, 2023
Das Aufkommen der Plattform Youtube führte dazu, dass wir vermehrt Einblicke in andere Lebenswelten bekamen. Wir sahen fremde Familien und Wohnzimmer, wurden in Video-Tagebüchern auf Reisen mitgenommen – und auch vermehrt zu Konzerten. Clips von Live-Auftritten haben verändert, wie wir auf Konzerte gehen und diese rezipieren. Ohne dabei gewesen zu sein, können wir nun immer mehr Shows online ansehen, Choreografien, Outfits und Setlisten nachvollziehen.
Einer der weltweit am meisten beachteten Liveauftritte ist ohne Zweifel die jährliche Halftime-Show des US-amerikanischen "Super Bowls", die auf Youtube hunderte Millionen Mal gestreamt wird. Besonders ikonisch war dabei der Auftritt von Rihanna 2023. Bei ihrer ersten Performance nach fünf Jahren Auszeit tanzte sie eine surreale Choreografie mit zahlreichen Tänzern, performte ihre Hits auf schwebenden Bühnen und machte gleichzeitig mit ihrem Babybauch noch ihre Schwangerschaft öffentlich.
Video-Essays von ContraPoints, 2024
Die Möglichkeit, unkompliziert Videos ins Internet zu stellen, brachte die ersten bekannten Internet-Persönlichkeiten und Influencer hervor. Während ein Teil der Inhalte sich heute auf andere Kurzvideo-Plattformen wie TikTok oder Instagram verlagert hat, werden die Langformate, die Youtube im Gegensatz dazu bietet, bewusst ausgenutzt und bespielt. Die US-Videoproduzentin und Philosophin Natalie Wynn prägte das Genre der Video-Essays auf der Plattform. In zum Thema passenden, aufwendig gestalteten Sets und passenden Kostümen widmet sie sich ironisch und mit linkspolitischer Haltung gesellschaftlichen, politischen und popkulturellen Analysen – hier spricht sie zum Beispiel fast drei Stunden lang über die "Twilight"-Saga.