Deutsche auf dem roten Teppich: lange galt das als Fremdscham-Garant. Selbst für ihren aus allen Winkeln ausgeleuchteten Moment des Ruhms und der Aufmerksamkeit konnten sich Schauspielerinnen, Komiker oder Sänger offenbar nicht dazu durchringen, eine Stylistin einzustellen oder ein neues Kleid oder einen Anzug zu kaufen. Ein bisschen wie in den Anfangszeiten der "Red-Carpet-Kultur", als auch in Hollywood Prominente in ihren Jeans und strähnigem Dutt den purpurnen Samt betraten.
Doch die vor einem Event ausgerollten Teppiche wurden ab den frühen 2000er-Jahren immer mehr zu einer Werbetafel. Die Talente werden heute von großen Namen angezogen und zurechtgemacht, die Auftrittszeit ist kalkuliert, und wichtige Werbekunden werden gut sichtbar an Handgelenken und Taillen platziert.
Auch Deutschland hat nachgezogen. So sah man bei den ersten Veranstaltungen der diesjährigen Berlinale Hannah Herzsprung in Chanel, Emilia Schüle in schlichtem Weiß, Leonie Benesch in samtigem Schwarz. Alle geschmackvoll und vor allem dem Anlass entsprechend gestyled. Das Kleid mit dem größten Aufmerksamkeitsfaktor trug aber kein Weltstar des Films, sondern die Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Es hebt sich auf den ersten Blick nicht unbedingt vom Roben-Reigen der anderen ab. Weiß, seidig, bodenlang. Stünde da nicht diese provokante Frage auf der Brust geschrieben: "Donald & Elon & Alice & Friedrich?". Dazu auf der Rückseite ein offensichtlicher Kommentar zur aktuellen Weltlage: "Democracy dies in daylight" - die Demokratie stirbt im Hellen. Damit ist klar: Das ist kein durchschnittliches Berlinale-Kleid.
Vier Namen als modische Abstraktion
Neubauers Outfitwahl ist auf verschiedenen Ebenen anspielungsreich: Der Ursprung der wandelbaren, durch die &-Zeichen verbundenen Namenskombinationen liegt im Jahr 2001. Die niederländische Design-Agentur Experimental Jetset designte für das japanische Label 2K/Gingham ein "archetypisches Bandshirt", wie sie es nennt. "John & Paul & Ringo & George" war darauf zu lesen, der denkbar minimalistischste Beatles-Merch. Nichts als vier gewöhnliche englische Männer, und doch wussten alle sofort, worum es ging.
"Als wir das Shirt entwarfen, wollten wir die Idee einer Rockband auf eine Liste von vier Namen reduzieren, um so die 'Essenz' einer Gruppe zu erfassen. In gewisser Weise geht es bei dem Shirt um Abstraktion: den Prozess der Übersetzung von figurativen Bildern in etwas weniger Figuratives", schreibt die Agentur auf ihrer Website. Schnell folgten Shirts für die Rolling Stones und die Ramones. Heute gibt es unendliche Variationen des Prinzips, sei es für den Cast des US-Serien-Hits "Friends" oder die Teletubbies. Auch wurde die Idee ein Hit für selbst bedruckte T-Shirts, auf denen etwa die Namen der WG-Mitbewohner oder die Lieblingsphilosophen aus dem Studium verewigt werden. Die Möglichkeiten der Anspielungen sind endlos, jede Version hat ein eigenes Zielpublikum.
Kein Insider, sondern für alle eine klare Botschaft sind die Namen auf Neubauers Kleid. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hatte Ende Januar eine Abstimmung im Bundestag zur Verschärfung der Migrationspolitik nur durch Stimmen der AfD-Fraktion gewinnen können. Dies hatte er in Kauf genommen und so die in Teilen rechtsextreme Partei faktisch an einer politischen Entscheidung mitwirken lassen.
Wo steht eigentlich die CDU?
Nun fragen sich Neubauer, und vermutlich viele andere, die am kommenden Sonntag wählen gehen: Kann auch Friedrich zu den autoritär agierenden, weit rechts stehenden Politikern und Oligarchen gezählt werden, die momentan in rasantem Tempo politische Macht übernehmen? Wo steht eigentlich die CDU? Der US-amerikanische Präsident Donald Trump und sein steinreicher Unternehmer-Gehilfe Elon Musk sägen an der Verfassung der Vereinigten Staaten, die AfD-Vorsitzende Alice Weidel hetzt immer offener gegen Migranten – und Friedrich Merz?
Knapp eine Woche vor der Bundestagswahl ist das eine relevante Frage. Vor zwei Tagen erst hatte Neubauer eine Petition veröffentlicht, in der sie sich gemeinsam mit über 100 Wissenschaftlern und Prominenten für einen größeren Fokus auf den Klimaschutz starkmachte. Gestern hat sie zu einem Klimastreik aufgerufen, der sich vor allem auch gegen den empfundenen Rechtsruck in der Bevölkerung und der Politik stellt.
Unter einem Foto im politischen Statement-Kleid schreibt Luisa Neubauer: "Rechtsradikale, Klimaleugner und Spalter tun sich weltweit zusammen, machen Stimmung, treiben Rassismus und Klimazerstörung voran, grenzen aus und missbrauchen demokratische Herausforderungen hemmungslos für Ausgrenzung und Stigmatisierung." Das Kleid sei eine Warnung und eine Aufforderung.
Das Medium ist die Nachricht
Gerade in diesen entscheidenden politischen Momenten ist die Mode ein gern genutztes Medium, um Aufmerksamkeit auf einen Notstand zu lenken. Und im Kontext der Reichen und Schönen, auf dem roten Teppich vor allen Kameras, bekommt eine solche Stellungnahme noch einmal mehr Scheinwerferlicht. "Tax the rich", stand beispielsweise in roter Farbe auf Alexandria Ocasio-Cortez' weißem Kleid, das die demokratische Politikerin zur Met-Gala 2021 trug. Ausgerechnet dort, auf einem exorbitanten Anna-Wintour-"Vogue"-Event, für das eine einzelne Karte 30.000 Dollar kosten kann und ein ganzer Tisch bis zu 275.000. Ocasio-Cortez hatte dazu "das Medium ist die Botschaft" auf ihrem Instagram-Kanal kommentiert. Sie erzählte später, dass das Thema dadurch genau vor den Menschen diskutiert worden war, die gegen eine Besteuerung der Reichen lobbyierten.
Die Met-Gala musste generell schon einiges aushalten, was Statement-Kleider angeht. 2018 trug die US-amerikanische Drehbuchautorin Lena Waithe ein knalliges Cape in Regenbogenfarben. Das Thema der damaligen Ausgabe: "Himmlische Körper: Mode und die katholische Vorstellungskraft". Waithe wollte ihre Unterstützung für die LGBTQ+-Gemeinschaft zeigen, da Regenbogen-Paare und queere Menschen in der katholischen Kirche nach wie vor nicht überall willkommen sind.
Die demokratische Abgeordnete Carolyn B. Maloney präsentierte 2021 ein Kleid, von dem mehrere Schleppen mit "Equal Rights for Women"-Stickerei hinabliefen. Im selben Jahr trug die Fußballerin Megan Rapinoe eine Clutch mit der Aufschrift "In Gay we Trust". Model und Schauspielerin Cara Delevingne hingegen war in ein weißes Latz-Oberteil gekleidet, auf dem "Peg the Patriarchy" stand. Das maßgeschneiderte Outfit sei ein Symbol für die Ermächtigung der Frauen und eine Botschaft, "es den Männern heimzuzahlen", sagte Delevingne der "Vogue".
Politik macht keine Pause
Seit dem Ausbruch des Krieges in Nahost war auch immer wieder modische Unterstützung für die palästinensische Bevölkerung auf den roten Teppichen zu sehen. Bei den Oscars 2024 trugen einige Berühmtheiten kleine Anstecker, die nach einem Waffenstillstand in Gaza riefen. Auch die palästinensische Flagge als Brosche, eine Handtasche im rot-weiß-schwarzen Wassermelonen-Design und die Kufiya kann man immer wieder bei Events wie den Grammys erspähen.
Sind die Statement-Looks, die regelmäßig für einen kurzen, lauten Aufschrei auf den roten Teppichen dieser Welt sorgen, modisch gesehen die schönsten? Meist nicht. Sind sie hier dennoch richtig platziert? Ganz klar ja. "Muss das sein?", ist oft die Reaktion, die ihnen entgegenschlägt. Nach dem Motto: "Ich bin ja auch für die Rechte von Transmenschen oder gegen Nazis, aber muss das ausrechnet auf den roten Teppichen diskutiert werden?"
Es ist so viel einfacher und eleganter, das Dunkle und Gefährliche auszublenden, das irgendwo da draußen vor sich geht, aber sicher nicht hier, zwischen all den Filmgrößen. Aber Politik macht keine Pause. Und genauso wie eine Margot Friedländer in der "Vogue" ihre Geschichte erzählen soll, soll eine Luisa Neubauer bei der Berlinale daran erinnern dürfen, was gerade in Deutschland auf dem Spiel steht. Mode will ernst genommen werden, und Mode ist ein Sprachrohr. Ob es nun ein paar Buchstaben auf einem Abendkleid sind oder eine Holocaust-Überlebende in einem Modemagazin. Jeder, der durch diese Bilder erreicht werden kann und sich mit dem Thema vielleicht sonst nicht auseinandergesetzt hätte, zählt.