Die Superlative sind ohne Zweifel angebracht, denn Hans Belting, der in Mainz und Rom Kunstgeschichte studiert hat und mit einer Untersuchung zur frühmittelalterlichen Malerei promoviert wurde, hat der Kunstgeschichte nach klassisch geschulten Anfängen als Byzantinist und Mediävist den Weg Richtung Moderne und Jetztzeit gewiesen. Durch neue Fragestellungen, neu erschlossene Gegenstandsbereiche sowie neue Methoden wurde das Fach aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und auf diese Weise im Reigen der übrigen Geistes- und Kulturwissenschaften weltweit anschluss- und zukunftsfähig gemacht.
Ein etwas alberner Spruch, der gelegentlich in akademischen Kreisen die Runde macht, behauptet, ein Wissenschaftler habe keine Biografie, sondern nur eine Bibliografie. Im Blick auf die Vielzahl der Publikationen, die Hans Belting verfasst hat, könnte man fast meinen, an der Sache müsse etwas dran sein.
Der Eindruck verstärkt sich noch einmal, wenn man die Vielfalt der behandelten Themen aus dem Zeitraum von der Spätantike bis zur Gegenwart bedenkt und rasch lernt, dass es sich bei fast allen vorgelegten Büchern um Standardwerke handelt. Zum Beispiel zur Frage nach dem fundamentalen Begriff der Kunst und des Bildes, nach dem grundlegenden Verhältnis von Bild und Kult, von Bild und Blick, Gesicht, Maske und Porträt oder den modernen Mythen der Kunst, speziell der Krise des (Meister-)Werkbegriffs. Neben diesen Titeln stehen unter anderem Untersuchungen zur Erfindung des Gemäldes als selbständiger Kunstgattung in der niederländischen Malerei an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit oder Monographien über Giovanni Bellinis "Pietà" und Hieronymus Boschs "Garten der Lüste" sowie Texte zu den "Szenarien der Moderne".
Der Blick hat sich geweitet
Aber nicht nur die Fülle der in mehr als fünf Jahrzehnten vorgelegten Schriften erregt Staunen, sondern auch die Verbindung von theoretischem und praktischem, sprich anschaulich konkretem Wissen und deren elegant-gewandter sprachlicher Darstellung, die auf gestelzte Rede und Jargon zu verzichten weiß. Nicht zuletzt dieser Aspekt hat dazu geführt, dass Beltings Aufsätze und Bücher nicht nur ins Englische, Französische und Italienische, sondern insgesamt in rund fünfzehn Sprachen übersetzt worden sind, darunter auch das Serbische, Tschechische und Russische und nicht zuletzt das Japanische und Chinesische.
Eine Bibliografie, soviel ist sicherlich richtig, spiegelt in vieler Hinsicht, die akademische Vita, angefangen mit der Dissertation, vorgelegt in Mainz, über die Habilitation, absolviert in Hamburg, bis zu den "fre"“ geschaffenen Büchern, die nicht selten aus Vorlesungen in Heidelberg, München und Karlsruhe oder Vorträgen in aller Welt erwachsen sind. Sichtbar wird aber auch, wie sich über die Jahre und Jahrzehnte die Schwerpunkte der Forschung verlagern und sich der Blick entschieden weitet, indem das noch bis in die 1960er weitgehend konservativ geprägte, von gesellschaftlichen und politischen Fragen abgekoppelte Selbstverständnis der Kunstgeschichte radikal in Frage gestellt wird.
In seiner Münchner Antrittsvorlesung, 1983 veröffentlicht, provozierte Hans Belting die Disziplin mit der im Titel gestellten Frage "Das Ende der Kunstgeschichte?". In einem ebenso rigoros wie virtuos argumentierenden Rundumschlag legte er dar, dass das Fach in seiner traditionellen Verfassung, den gewandelten Verständnisanforderungen, welche die vielfachen Entgrenzungen der modernen Kunst und damit verbunden auch die neuen technischen Medien, darunter Fotografie und Film, stellten, nicht mehr gewachsen sei.
Aus der selbstverliebten Selbstbezüglichkeit befreien
Es gelte, sich weitgehend neu zu orientieren, das heißt sich dem "Dialog der Fächer" anzuschließen sowie die Frage nach dem Betrachter, den Funktionen und Kontexten der Kunst zu stellen: "Je mehr die Öffentlichkeit an historische Kunst Fragen stellt, die in das Problem des heutigen Verständnisses von Kunst einmünden, desto weniger taugen die bewährten Antworten, die sich die Kunstwissenschaft gegeben hat." Sich aus der selbstverliebten Selbstbezüglichkeit zu befreien und sich für eine "Umerziehung der Kunstgeschichte" in Richtung eines zeitgemäßen "modernen Bewusstseins" stark zu machen, komme den Forderungen des Tages entgegen.
Eben diesem Anspruch ist Hans Belting nachgekommen. Er hat sich der Kunst der Moderne und Gegenwart zugewandt und von dieser Position aus rückblickend auch die älteste und ältere Kunst als Historiker neu verstanden (und viceversa). Nach und nach hat er sich zum Bildwissenschaftler gewandelt, der die Kunstgeschichte nicht verlassen oder verraten hat, sondern deren Aufgaben- und Reflexionsfeld nur neu konzipiert und wesentlich erweitert.
Inspiriert wurde diese Wendung nicht zuletzt - oder auch gerade - durch den Austausch mit zeitgenössischen Künstlern, darunter Nam June Paik, Hiroshi Sugimoto, Gary Hill, Bill Viola oder Thomas Struth, um nur einige Namen anzuführen, die bei ihm an die Seite der Altvorderen treten, darunter Édouard Manet und Paul Cezanne, Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch, Marcel Duchamp und Max Beckmann.
Ende und Neuanfang der Kunstgeschichte
Vielleicht hat diese Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst, zu welcher die Grundlagenforschung in Sachen Kunst, Bild und Medium parallel lief, auch den 1992 erfolgten Wechsel an die damals neu geschaffene Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe bedingt: eine Institution, an welcher die Ausbildung von Künstlerinnen und Künstlern mit dem Universitätsfach Kunstwissenschaft einhergeht und die aufs engste mit dem unmittelbar benachbarten Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) und dessen Forschungen und Ausstellungen verknüpft ist.
Dieses Terrain bot Belting für die dritte Dekade seiner Lehrtätigkeit den geeigneten organisatorischen Rahmen und eine inhaltliche Plattform, die zahlreiche Stränge einer Kunstgeschichte als Bild- und Medienwissenschaft zusammenführte. Wenn man so will, wurde mit diesem Schritt, der unter den Kollegen vielfach Kopfschütteln ausgelöst hat, für den Hochschullehrer Belting das zwei Jahrzehnte zuvor diagnostizierte Ende der Kunstgeschichte in einem Neuanfang beispielhaft aufgehoben.
Das in Karlsruhe gemeinsam mit Andrea Buddensieg in Angriff genommene und in drei voluminösen Bänden dokumentierte Projekt zur "Global Art" ist nur eines von mehreren dort realisierten Unterfangen. Das letzte, 2018 publizierte Buch ist dem Dichter und Staatsmann Leopold Sédar Senghor als intellektuellem "Go Between" zwischen den Kulturen Afrikas und Europas gewidmet. Koautorin ist wiederum Andrea Buddensieg.
Es bleiben die Schriften
Die Bibliografie eines Gelehrten besagt, wie betont, nur einiges, keineswegs alles über die in Rede stehende Person. Hans Belting war ein ungemein freundlicher, immer neugieriger, verständnis- und auch humorvoller Gesprächspartner, mit dem man sich bestens über Gott und die Welt austauschen konnte. Zum Beispiel beim Gang durch den Garten der römischen Villa Medici mit Blick auf den dort in den Rabatten wuchernden Akanthus in Bezug auf die Geschichte von Form und Ornament. Oder zuletzt vor drei Jahren im Rahmen einer Einführung in den historischen Teil der im Gropius Bau gezeigten Ausstellung "Garten der irdischen Freuden".
Obwohl bereits erkrankt hat Hans Belting kurzfristig zugesagt, mit dem Autor dieser Zeilen an einem Zwiegespräch über Boschs berühmtes Triptychon teilzunehmen. Es war ein großes Vergnügen, ihm Stichworte zuzuspielen und ihm bei seinen klugen Extempores, die er wie gedruckt vorgetragen hat, zuzuhören.
Was jetzt bleibt, sind Erinnerungen, vor allem aber auch die Schriften, die zur Lektüre einladen. Wer also, frei nach Georg Christoph Lichtenberg, zwei Paar Hosen hat, verkaufe eines und schaffe sich zumindest das eine oder andere Buch an; lieferbar ist in Neuauflagen die Mehrzahl von ihnen.