Zum Tod von Frank Stella

Der Meister der Mehrdeutigkeit

"Sie sehen, was Sie sehen": Der US-Künstler Frank Stella wehrte sich ein Leben lang gegen die Interpretation seiner Werke und wurde so zu einem Vordenker des Minimalismus. Ein Nachruf auf einen der letzten Giganten der Nachkriegsmoderne

Den weißen Wal fangen sie nie, Kapitän Ahab und seine Mannschaft der Pequod. Vielleicht war es auch die Faszination für das Ungreifbare, warum sich Frank Stella so für "Moby Dick" interessierte. Zwischen 1986 und 1997 schuf der jetzt 87-jährig in New York gestorbene Künstler eine Reihe von Gemälden, Lithografien und Skulpturen, die von Herman Melvilles Roman inspiriert waren. Die von wellenartigen Formen bestimmte "Moby Dick"-Serie war nicht zuletzt eine Referenz an den Abstrakten Expressionismus – an die Generation vor Stella, die er bis zuletzt bewunderte.

Frank Philip Stella wurde am 12. Mai 1936 in der Nähe der Hafenstadt Boston geboren. Seine Mutter hatte eine Kunstschule besucht und war passionierte Malerin von Landschaften. Auch sein Vater, ein Arzt, liebte die Kunst. Stella junior, der schon auf der High School Bekanntschaft mit dem späteren Bildhauer Carl Andre und dem Experimentalfilmer in spe Hollis Frampton gemacht hatte, studierte zwischen 1954 und 1958 Geschichte in Princeton und belegte dort nebenher Malkurse bei William C. Seitz und Stephen Greene. Letzterer führte ihn in die New Yorker Kunstszene ein.

1958 zog Stella nach Manhattan und schuf zuerst gestische Gemälde nach dem Vorbild von Franz Kline oder Willem de Kooning. Damit war es schlagartig vorbei, als der junge Künstler die Flaggenbilder von Jasper Johns bei Leo Castelli gesehen hatte. Stella wechselte zu einer strengeren, analytischen Malweise, die von Wiederholung und Variation geprägt war – und der Nicht-Farbe Schwarz. 

"Fast hypnotisiert" von Stellas Schwarz

Der Maler setzte mit ruhig geführtem breitem Pinsel dunkle Streifen aneinander. Die von feinen hellen Linien getrennten schwarzen Bänder ergaben mitunter labyrinthische Formationen. Der Kunsthistoriker William Rubin schrieb 1960 in der Zeitschrift Art International, er sei "fast hypnotisiert" von der "unheimlichen, magischen Präsenz" der Bilder, während der Kritiker Harold Rosenberg Stellas Minimalismus noch 1970 als "Schachbrett-Ästhetik" verspottete.

Die Abstrakten Expressionisten hatten sich noch gegen das Missverständnis gewehrt, Abstraktion sei ein reines Spiel der Formen und Farben. Ein Jackson Pollock bestand noch auf der subjektiven Inhaltlichkeit – "subject matter" – seiner Bilder. Stella war das egal. Von ihm stammt der berühmte Spruch "What you see is what you see". Er wies auch alle Versuche zurück, sein Werk zu interpretieren. Auf die "technischen, räumlichen und malerischen Mehrdeutigkeiten" komme es an, formulierte er einmal. Der Satz wurde zum inoffiziellen Credo der minimalistischen Bewegung.

Stella blieb flexibel. Drohte seine Kunst zur Formel zu erstarren, erfand er seine Praxis neu. Nach den schwarzen Bildern belebte er die Streifen-Formationen mit leuchtenden Farben und shaped canvases – Leinwänden, die vom Standard-Rechteck abwichen. In den späten 1960ern fing Stella mit der "Protractor"-Serie an: mehr als 100 wandfüllende Gemälde voller Halbkreise in bunten, mitunter fluoreszierenden Farben. Die Bilder "treiben die ganze Idee der chromatischen Abstraktion auf die Spitze fast barocker Ausgestaltung", schrieb Hilton Kramer in der "New York Times".

Ein malender Captain Ahab

In den 1970er- und 80er-Jahren gab Stella die flache Bildebene auf und holte seine Werke – und damit die Schnörkel, Kurven und Wirbel, die er in seinen Bildwelten entwickelt hatte –  in Assemblagen in den Raum. Was Stella nun "maximalistische Gemälde" nannte, war Lichtjahre von der strengen Autorität der schwarzen Bilder entfernt. Der logische nächste Schritt waren die plastischen Werke, die Stella seit den 1970ern für den öffentlichen Raum schuf. 

Nicht selten schien es, als wollte er Material und Farbe regelrecht in die Gegend schleudern. In seinen Bestrebungen, sämtliche formale Möglichkeiten der Kunst auszureizen, erinnerte er wirklich etwas an den von seiner Mission besessenen Ahab in "Moby Dick". Und wie der Kapitän die Weltmeere durchstreift, durchmaß Stella den Kosmos der künstlerischen Abstraktion. Am vergangenen Samstag ist er in New York an Lymphdrüsenkrebs gestorben – der letzte Gigant der Nachkriegsmoderne.