100. Geburtstag von Maria Callas

Töne wie brennende Pfeile

Noch immer gibt es keine Opernsängerin, die an die Intensität der 1977 verstorbenen Maria Callas herankommt. Am 2. Dezember wäre sie 100 Jahre alt geworden - und wird dazu auch im Kino gefeiert

"Dei tuoi figli la madre" – Als "die Mutter Deiner Kinder", stellt sich Medea in Luigi Cherubinis gleichnamiger Oper dem von ihr entfremdeten Jason vor, als die Verbannte in die Hochzeitsvorbereitungen des Kindsvaters mit einer Jüngeren hineinplatzt. Noch einmal fleht die Verbitterte Jason an, "als Ehemann" zu ihr zurückzukehren: "Medea soll zu Deinen Füßen liegen", Jason – Giasone, wie er in der in den 1950ern üblichen italienischen Fassung der französischen Oper hieß – will davon nichts hören. 

Die bestürzende Reaktion von Medea muss man in Maria Callas’ Liveaufnahme aus der Mailänder Scala vom 10. Dezember 1953 gehört haben, am Pult stand Leonard Bernstein: "Nemici senza cor" – "Feinde ohne Herz" ruft sie, und Callas lässt im Rezitativ ihre Spitzentöne wie brennende Pfeile ins Auditorium schnellen. 

Das geht nicht gut aus. Am Ende bringt Medea nicht nur ihre Rivalin, sondern auch die eigenen Kinder um. Callas’ Ausdrucksenergie verschlägt selbst den eloquentesten Autoren die Sprache. "Wie soll der in einer Klang-Figur zum Laut gewordene Hass beschrieben werden?", fragt sich Jürgen Kesting in seiner (bis heute unerreichten) Callas-Monografie von 1990.

Entwicklung und Niedergang einer Ausnahmestimme

Von Maria Callas, die vor 100 Jahren geboren wurde und im September 1977 im Alter von nur 53 Jahren starb, bleiben wenige Filmdokumente und ein reiches diskografisches Vermächtnis. Ihre Live- und Studioaufnahmen – die sie mit wenigen frühen Ausnahmen bis Mitte der 1960er für die Plattenfirma EMI machte – spiegeln die Entwicklung (und den Niedergang) einer Ausnahmestimme und belegen ihr herausragendes stimmtechnisches Können und das gewaltige Ausdrucksspektrum, über das die in New York geborene Sopranistin verfügte.

Als 13-Jährige zog Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulou, Tochter griechischer Einwanderer, mit ihre Mutter und Schwester nach Athen zurück und nahm ab 1938 Gesangsunterrricht bei Elvira de Hidalgo, die ihre erste Begegnung mit der Jugendlichen so schilderte: "Dass sie sich ausgerechnet wünschte, Sängerin zu werden, war einfach lächerlich. Sie war groß, sehr fett und trug eine dicke Brille. Sobald sie diese abnahm, blickte sie einen mit großen, jedoch vagen und nichts sehenden Augen an". 

Die Gesangslehrerin hörte dann aber Klangkaskaden, "die noch nicht vollständig kontrolliert, aber voller Drama und Emotion waren. Ich lauschte mit geschlossenen Augen und stellte mir vor, welch eine Freude es sein müsste, mit solchem Material zu arbeiten und es bis zur Perfektion zu formen". Ihre Schülerin erwies sich als Perfektionistin. 1942 trat Callas an der Athener Nationaloper erstmals in der Titelrolle von Puccinis Opern-Reißer "Tosca" auf, eine Partie, die sie nicht besonders schätzte, die sie aber noch bis hin zu ihren letzten Londoner Opernauftritten im Jahr 1965 im Repertoire hatte.

Entwicklung zur gefeierten Bühnenschauspielerin

Zu den raren Filmaufnahmen längerer Opernszenen zählt Callas’ spätes Debüt an der Pariser Oper 1958 einschließlich eines kompletten zweiten Aktes der "Tosca" (in dem die Titelheldin den finsteren Polizeichef Scarpia ersticht, als er sie zum Sex zwingen will). Anlässlich ihres 100. Geburtstages bringt der Filmemacher Tom Volf, der den Konzertfilm bei den Recherchen zum Dokumentarfilm "Maria by Callas" (2017) entdeckte, das Dokument nun in einer nachträglich kolorierten Fassung ins Kino. 

Mit einer strapaziösen Abmagerungskur zwischen 1953 und 1954 und in der darauffolgenden Zusammenarbeit mit dem Regisseur Luchino Visconti hatte sich die Sopranistin zur gefeierten Bühnenschauspielerin weiterentwickelt. Aus ihrer Glanzzeit existieren aber keine nennenswerten Filmdokumente. Das lässt sich verschmerzen, denn in den Studioaufnahmen erweist sie sich als "Acting voice", wie ihr langjähriger Plattenproduzent Walter Legge den von ihm gesuchten Sängertypus nannte. Herausragend etwa die an elf Tagen im August 1952 in der leeren Scala aufgenommene "Tosca": Mit Callas gestaltet eine ausgereifte Singschauspielerin die notorisch eifersüchtige Heldin, die in politische Intrigen verstrickt wird. 

Wie sie liebt, lacht und leidet – häufig macht Callas vergessen, dass sie singt. Auf einer imaginären Hörbühne sieht man sie förmlich vor sich. Wenn Tosca am Ende auf die Zinnen des römischen Castel Sant’Angelo steigt, um sich nach einer furios herausgeschleuderten Schlussphrase in die Tiefe zu stürzen, wirkt das melodramatische Finale des Stücks für ein einziges Mal echt.

Kein einschmeichelndes Organ

Für Puccini-Partien wie Mimi in "La Bohème" oder "Manon Lescaut" (die sie beide komplett aufnahm, aber nie auf der Bühne sang) hatte sie nicht ganz die richtige Stimme. Es war kein einschmeichelndes Organ. Jürgen Kesting: "Maria Callas besaß nicht (...) die harmonische Stimme der schönen Seele, sondern in der Stimme selber spielte sich gleichsam ein Drama ab. Aus ihr klangen die Emotionen einer verwundeten und verwirrten, verletzlichen und verletzten Seele. Und ihr Temperament kannte nicht das Maß, sondern den Ausbruch, die Erregung, die Exaltation". 

Gerade deshalb war Callas, die über eine fantastische Koloraturtechnik besaß, die ideale Interpretin für Belcanto-Heldinnen von Rossini, Bellini und Donizetti.  Callas führte die Läufe und Triller nicht bloß als Ziergesang vor, sie nutzte den "Canto fiorito" als Ausdruckskunst. Ihre Paradepartie war Bellinis romantische Oper "Norma", die in verschiedenen Aufnahmen mit der Sängerin vorliegt. Wenn Callas’ Norma im Finale ihren Vater bittet, ihre Kinder zu sich zu nehmen ("Deh! Non volerli vittime"), bevor sie freiwillig auf den Scheiterhaufen steigt, bleibt kein Auge trocken. 

Es existiert ein Mitschnitt aus der Scala vom Dezember 1955, der spätestens in der Schlussszene spürbar macht, wie Callas ihre Stimme im Singen verbrannt hat. Irgendwann musste der Feueratem versiegen, über den die Sängerin 1955 noch verfügte.

Krachend am Mythos gescheitert

Die Auftritte und Aufnahmen der Sängerin bieten eigentlich Drama genug. Ihr Privatleben war aber auch ein Lieblingsstoff der Klatschpresse. Callas’ Beziehung zum griechischen Milliardär Aristoteles Onassis, der 1968 dann nicht sie, sondern Jacqueline Kennedy heiratete, wurde zum Höhepunkt ihrer "Chronique scandaleuse". Keine Biografie, kein Theaterstück (etwas Terence McNallys bis in die 2000er vielgespieltes "Master Class") kommt ohne die bittersüße Liebesgeschichte zwischen Onassis und Callas aus. Auch in der bildenden Kunst wird das Klischee von der am Leben scheiternden Diva arg überstrapaziert. Überhaupt passen Oper und (Performance-)Kunst gar nicht so gut zusammen, wie man vermuten könnte. Mit ihrem Theaterprojekt "7 Deaths of Maria Callas" ist Marina Abramovic vor drei Jahren krachend am Mythos Callas gescheitert.

Aber vielleicht hat die Mailänder Scala mehr Glück: Callas’ Stammhaus zeigt der Primadonna zu Ehren bis zum 30. April 2024 die Ausstellung "Callas Phantasmagoria" mit Kostümen, Kleidern, Fotos und Kunstwerken, die von der Diva inspiriert wurden. Der Komponist Alvin Curran hat ausgehend von Callas’ Stimme ein Musikstück komponiert. Latifah Echakhch zeigt die Sängerin als schemenhafte Projektion hinter einem Vorhang aus roten und weißen Perlen. Francesco Vezzoli präsentiert eine Leinwand-Installation, die das Gesicht der Callas in 63 verschiedenen Aufnahmen zeigt. 

Bereits 2017 war an der Scala eine Ausstellung mit Originalkostümen der Sängerin zu sehen. Für "Callas Phantasmagoria" wurde noch einmal das von Salvatore Fiume handgemalte Kostüm aus dem Fundus geholt, das die Sängerin 1953 als Medea trug. Die Ausstattung von Opern hat sich heute, 70 Jahre später, gründlich verändert. Die Aufnahmen der Callas aber verblassen nicht, an ihren Gesang und ihre Ausdruckskraft ist bis heute keine Nachfolgerin herangekommen.