Ludovic de Saint Sernin in New York

Die dunkle Erotik im scheinbar Unschuldigen

Die New York Fashion Week wurde zuletzt gern für tot erklärt, diesmal fand sie jedoch wieder ein begeistertes Publikum. Das lag auch am Designer Ludovic de Saint Sernin, der seine gewagte Kollektion dem Fotografen Robert Mapplethorpe widmete

Die New Yorker Modewoche hat ihren Glanz verloren, heißt es seit einigen Jahren. Viele große Marken sind nach Paris abgewandert. New York schien etwas vernachlässigt. Doch diese Saison fühlt es sich anders an, und ein Grund könnte Modeliebling Ludovic de Saint Sernin sein.  Seit der Gründung seines gleichnamigen Labels im Jahr 2017 zeigt der französische Designer seine Kollektionen in Paris, nun gibt er seinen Einstand im Big Apple, in Kollaboration mit der Robert Mapplethorpe Foundation.

Eine wohl bedachte, schlüssige Wahl. Während Mapplethorpe als einer der ersten die Fotografie zu einer Kunstform erkor und seine Sexualität zu einem Teil dieser machte, gilt de Saint Sernin als Auslöser der neuen queeren Welle der Modewelt, die Normen in jeder Form übergeht. 

In seiner Fluidität ebnet er der genderlosen Mode den Weg, steckt seine Models, egal welchen Geschlechts, in körperbetonte Slips, Tanktops und tiefsitzende Hosen. "Ich stehe sowohl auf persönlicher als auch auf künstlerischer Ebene mit ihm in Verbindung, daher ist dies so etwas wie ein Höhepunkt", zitierte die "Vogue" de Saint Sernin Backstage über seine Beziehung zu Mapplethorpe. 

Das Sanfte und das Schockierende

Als Jugendlicher habe er Zuflucht in den provokativen, mutigen Fotografien des Künstlers gefunden, etwas später durch Patti Smiths "Just Kids" die Verknüpfung zwischen ihm und Mapplethorpe erkannt. "Er hatte die Kühnheit, seine Fantasie mit der Welt zu teilen, und ich denke, das ist wirklich stark, denn er hat vielen Menschen, mich eingeschlossen, geholfen, mutig zu sein und jeden Teil von uns selbst zu verkörpern." Das wolle auch er mit seiner Mode erreichen. Die ist kompromisslos und spiegelt sein Wesen und Intuition in jedem Stück wider: In dieser Saison in einer Hommage an sein Idol und dessen revolutionäre Kunst, die sanfte und die schockierende.

 “X: The Robert Mapplethorpe Collection“ durchlebt den künstlerischen Schaffensweg des Namensgebers. Die berühmten, zarten Blumenprints, die als Fotografie auch im Schlafzimmer von Mappelthorpes Eltern an der Wand hingen, begegnen dem Betrachter auf feinem, transparent glänzendem Seidenorganza. An weiblichen wie männlichen Models wachsen die Pflanzen empor und bevölkern schließlich filigrane Kettenkleider und Hemden. Bald durchbrechen sie schwarzen Samt, der als Übergangsmaterial zum Leder dient. Hier beginnt die zweite Hälfte der Kollektion. Silberne Ösen in schwarzen und roten Lederkleidern, Mänteln und Hosen, immer weniger Stoff, BDSM-Masken und Messer in den Händen als Accessoire. 

Den klassischen Herrenanzug belebt der Designer mit roter Lederkrawatte und Lackledertasche. Man denkt an "Man in Polyester Suit“, eines von Mappelthorpes bekanntesten Werken. Kinky interpretierte Office-Looks laufen über den Runway, schwankend zwischen sinnlich und sexuell. Die Gewagtheit, die de Saint Sernin an Mapplethorpe bewundert, wird gerade in den späteren Looks spürbar, in denen schwarz-lederne Clubwear dominiert. Klar orientiert sich der Designer an den Sadomaso-Exkursionen des Künstlers und seiner Faszination für den Teufel, den dieser nicht als das Böse, sondern als einen interessanten Gegenspieler sah. "Die Schönheit und der Teufel sind ein und dasselbe", wird der Künstler zitiert.

"Er war so einzigartig"

Ludovic de Saint Sernin erzählt in seiner Kollektion vom umfangreichen Werk des Fotografen. "Ich wollte die lebenslange Reise zeigen, die darin besteht, seine Identität zu entdecken." Auch er selbst habe seine Sexualität durch Mappelthorpes Kunst erkunden und einordnen können. Als Inspiration dient der Fotograf ihm daher schon seit seiner ersten eigenen Modekollektion 2017. "Mir wurde klar, dass Robert nur seine eigene Stimme hatte, und er war so einzigartig. Ich hatte das Gefühl, dass in der Branche etwas fehlte - es gab keine Marke, mit der ich mich völlig identifizieren konnte. Ich wollte mich selbst ausdrücken und sehen, ob das, was ich tue, bei meiner Community Anklang finden würde", erklärte er "Vogue Business" wenige Tage vor der New Yorker Show. 

In seiner ersten, wie auch in vielen folgenden Kollektionen des Designers fand Mappelthorpe eine Erwähnung. Doch für seine Herbst-Winter-2024 Designs begibt sich de Saint Sernin tiefer in die Archive des Fotografen - mit dem Ziel, jede Facette des Werks aufzuzeigen und nicht bei den provokativen Sex-Fotos zu verweilen, die bloß eine Seite des Portfolios ausmachen. 

Die fotografierten Motive auf Textilien zu drucken, ist dem Designer im wahrsten Sinne des Wortes zu oberflächlich. Stattdessen will er Mapplethorpes New York und die, die ihn umgaben, auf dem Laufsteg sehen. "Ich denke also an die Zeit in den 1980er-Jahren, als er in voller Blüte stand, aber ich denke auch daran, wie diese Leute heute aussehen würden und mit wem sie abhängen würden." 

"Ich habe diese Saison fantastische Kleider gesehen"

Die Charakteristika der 1980er-Mode durchdringen daher die Kollektion: breite Schultern, schlanke Taillen, glänzendes Kalbsleder, ausdrucksstarke Silhouetten aus glamourösen Materialen. Darin verwebt de Saint Sernin die Essenz New Yorks, von Uptown bis in den Untergrund. Mondäne Kleider, Essentials für verborgene Nachtclubs: rau, sexy, sich dem Sog der Stadt hingebend. "Die dunkle Erotik im scheinbar Unschuldigen" soll die tragbare Mapplethorpe-Huldigung ergründen, heißt es in den Shownotes. Und so bildet sein NYC-Debüt nicht nur die vielen Seiten Mapplethorpes ab, sondern auch die der Metropole.

Heute würde man Robert Mappelthorpes Einstellung wohl sex-positiv nennen, so wie es auch Ludovic de Saint Sernin vorlebt. In der Kunst und in der Mode gelten beide als Vorreiter, die sich strengen Rahmen und traditionellen Anforderungen widersetzen, um sich uneingeschränkt auszudrücken. Oder, wie es de Saint Sernin selber sagt: "Meine Marke ist ziemlich autobiografisch, und das habe ich offensichtlich auch bei Roberts Arbeit gespürt. Er hat mir das Selbstvertrauen gegeben, zu dem zu stehen, was ich bin, und nicht zu verleugnen, wer ich bin."

"'NFFW ist tot': Ich weiß nicht, wo ihr alle wart, aber ich habe diese Saison fantastische Kleider gesehen", schrieb Modekritikerin und Trendprophetin Mandy Lee auf X. Tatsächlich schien die weit von Europa entfernte Modewoche diesen Februar sehr lebendig, relevant und zukunftsweisend. Nicht zuletzt durch Ludovic de Saint Sernins New-York-Exkurs.