Film über Le Corbusier in Indien

"Wir haben einen fremden Meister zu unserem eigenen gemacht"

Ein neuer Dokumentarfilm beschäftigt sich mit dem Schaffen Le Corbusiers in Indien. Der Architekt wollte in der Stadt Chandigarh einen Raum für besseres Leben schaffen - heute offenbart seine Utopie auch Schattenseiten

56 rechtwinklig angelegte Sektoren strukturieren diese komplett durchgestaltete Stadt der Moderne. Es gibt Parkanlagen, Schwimmbäder und geschützte Bäume, Universitäten und Gotteshäuser. Gleich am Anfang einer Autofahrt erscheint das Schild "Welcome to Chandigarh – The city beautiful" am Stadteingang, offenbar ein Ort des puren Optimismus, der auf das Konto des legendären Architekten Le Corbusier geht.  

Nachdem sich Indien 1947 aus der britischen Kolonialherrschaft befreit hatte und die Teilung des Subkontinents in Indien und Pakistan erfolgt war, musste im indischen Teil der Provinz Punjab eine neue Verwaltungsstadt aufgebaut werden. Der erste Premierminister des Landes, Jawaharlal Nehru, erteilte persönlich den Auftrag.     

Für Le Corbusier bot diese Aufgabe die Möglichkeit, seine städtebaulichen Ideen und die Ideale der Moderne von Licht, Luft und Sonne in urbanen Ausmaßen anzuwenden. Er entwarf nach westlich kapitalistischem Vorbild einen Lebensraum für 500.000 Menschen: mit äußerem Grüngürtel und Alleen, die geometrisch angeordnet waren. 

"Eine bessere, gerechtere und harmonischere Welt"

Auch ein künstlicher See und eine ungewöhnliche Reihung von Regierungsgebäuden, der Chandigarh Capitol Complex, bereicherten seine Pläne. Der letztere, bestehend aus Gericht, Parlament und einem Verwaltungsbau, gehört seit 2016 zum Weltkulturerbe, ist aber nach einem Selbstmordanschlag nur schwer zugänglich. Diese Entwicklung kontrastiert mit Le Corbusiers eigentlichen Vorstellungen, eine Architektur zu schaffen, die ein gesellschaftliches Miteinander garantiert. Das Leben in der Stadt sollte "im Einklang mit der Natur" gestaltet werden, als eine "bessere, gerechtere und harmonischere Welt".                                       

Da inzwischen aber doppelt so viele Menschen wie geplant in der realen Stadt leben, mussten an dem ursprünglichen Entwurf längst Veränderungen vorgenommen werden. Im Umland sind etwa Slums und Hochhaussiedlungen entstanden. Die Stadt interessiere sie als "Labor für ein neues Zusammenleben", verkünden die Schweizer Regisseure Karin Bucher und Thomas Karrer aus dem Off, während die Kamera an brutalistischen Betonentwürfen und ihren Bewohnern entlanggleitet. Die Collage aus Archivbildern, Le-Corbusier-Zitaten, Interviews mit lokalen Künstlerinnen, Architekten und Stadtaktivistinnen wird flankiert von architektonischen Aufnahmen. 

Dass die Gebäude in ihrer Gesamtheit trotz des Zuzugs einer rasant wachsenden Bevölkerung, Hitze und Monsunperioden relativ gut erhalten sind, liegt am sogenannten Edikt von Chandigarh. Darin schrieb Le Corbusier akribisch vor, welche baulichen Veränderungen, wenn überhaupt, stattfinden dürfen. Es mussten etwa weiterhin Beton, Ziegel und Stein als Baustoffe verwendet werden und alle Bäume unter Schutz gestellt bleiben.

Wachstum, das Gewinner und Verlierer kennt

Studenten, Touristenführer, Gastwirte und nicht zuletzt auch Deepika Gandhi, die Direktorin des Le Corbusier Centre in Chandigarh, kommen zu Wort. Der Architekt Siddhartha Wig hält die Stadt für ein Museum und zweifelt an Corbusiers "Verständnis vom Kontext der Kultur, in der er entwarf". Denn die indischen Architekten seines Teams hätten an westlichen Schulen gelernt.         

Und doch ist das für ihn nicht zwingend problematisch. "Wir haben einen fremden Meister genommen und ihn zu unserem eigenen gemacht. Es nimmt unserer Identität nichts weg, sondern bereichert sie." Für manche Anhänger der heutigen Identitätspolitik eine provozierende Aussage, die gemeinsame humanistische Werte voraussetzt und nicht etwa einen Fall des Kulturimperialismus wittert. Obwohl sie sichtlich von Corbusiers Ideen eines Gesamtkunstwerks fasziniert sind, dessen Motto "Die Utopie ist die Realität von morgen" immer wieder zitiert wird, verklären Karrer und Bucher in ihrer Reflexion einer avantgardistischen Vision das Endprodukt nicht. Vielmehr beschäftigen sie sich auch erhellend mit den Problemen der Stadt, wie etwa den steigenden Wohnungspreisen oder dem Verlust von öffentlichen Räumen. In diesen Szenen schlägt die Utopie in Dystopie um, die baulichen Vorgaben verhindern nicht selten eine adäquate Anpassung und machen Chandigarh zu einem exklusiven und kaum dynamischen Ort. 

Deshalb überlegt die Regierung inzwischen, das Edikt mit Beteiligung der Bevölkerung umzuschreiben. Gleichzeitig wird die aktuelle Aufbruchstimmung des global bevölkerungsstärksten Landes spürbar, das den Konkurrenten China mit neuen Flughäfen, Autobahnen und Eisenbahnstrecken zu übertrumpfen versucht. Ein Wachstum, das auch in Chandigarh, wie in anderen Millionenstädten, Gewinner und Verlierer kennt.